Die Stunde des Löwen
Castor durch die Lande rollt.«
Bei der Erwähnung des Castors tauchte vor ihrem inneren Auge Jan auf. Auch er engagierte sich leidenschaftlich für die Anti- AKW -Bewegung. Aus seiner Sicht war es skandalös, dass sich jetzt, nicht allzu lange nach Fukushima, im Zuge der Eurokrise kein Schwanz mehr für die Gefährlichkeit von Atomkraft zu interessieren schien. Ein paarmal waren deswegen zwischen ihnen schon hitzige Diskussionen entflammt. Wenn Jan seine Ãberzeugung äuÃerte, gegen die Atommülltransporte mal auf der StraÃe richtig Front machen zu müssen, und sie ihm klarzumachen versuchte, dass es ihr beruflich schaden würde, sollte das Maà seiner Aktion über das einer friedlichen Demonstration hinausgehen.
»Hätte er heute nicht arbeiten müssen?«, hörte sie Born fragen.
»Arbeiten?« Der junge Mann stieà ein meckerndes Lachen aus. »Milan macht ganz gern mal blau.«
»Wissen Sie, wie er den Abend gestern verbracht hat?«
»Bin ich sein Papa?«
Aus den Augenwinkeln sah sie, dass Born tief durchatmen musste, bevor er einigermaÃen freundlich entgegnen konnte: »Vielleicht haben Sie ja mitbekommen, ob Ihr Nachbar zu Hause war.«
»Hab ich nich«, antwortete der junge Mann provokanterweise in ebenso freundlichem Tonfall. »Weil ich nämlich gestern selbst auf der Rolle gewesen bin.«
»Am liebsten hätte ich der Zecke ihr beschissenes Zöpfchen abgeschnitten«, brummte Born, als sie im Erdgeschoss aus dem Lift traten. »Hätte ich vielleicht auch, wenn er am Ende nicht Tassens Handynummer herausgerückt hätte. Ich ruf da gleich mal an. Mal sehen, was unser Ãko-Terrorist zum Mord an seiner Stiefmutter zu sagen hat.«
Ein wenig genervt von Borns abfälliger Wortwahl stellte sich Mannfeld an die gläserne Haustür und beobachtete den Feierabendverkehr, der sich drauÃen im Schritttempo in Richtung Alleenring kämpfte. Im Hintergrund hörte sie Borns sonoren Bass. Ob er mit Milan Tassen verbunden sei, wollte er wissen. Was folgte, war »Hm«, »Ja« und »Verstehe«. SchlieÃlich sagte er einige Sätze, die sie akustisch nicht verstand. Borns Stimme klang mittlerweile gedämpft, als würde er durch Watte sprechen. Lediglich das abschlieÃende »Vielen Dank, Dr.  Brunner, wir melden uns dann morgen wieder« drang klar und deutlich an ihre Ohren.
»Dr.  Brunner?« Sie warf Born einen fragenden Blick zu.
»Richtig gehört. Tassen liegt in Wiesbaden in der Unfallklinik. Auf der Intensivstation. Einer der behandelnden Ãrzte hat abgehoben. Tassen hatte heute Morgen auf der A 3 einen schweren Unfall. Und wegen der Schmerzen wurde er ins Koma versetzt.«
»Das ist ja der Hammer!«, stieà sie einen Tick emotionaler aus, als ihr lieb war. »Wie kritisch ist sein Zustand?«
»Dr.  Brunner meint«, antwortete Born und stützte sich mit einer Hand an der Briefkastenanlage ab, »dass er wahrscheinlich durchkommt.«
»Dann hat uns der Nachbar keinen Bären aufgebunden. Es stimmt, dass Milan Tassen verreist ist, kurz nachdem seine Stiefmutter ermordet wurde. Verdächtig macht ihn das schon, auch wenn du dazu keinen aktuellen Anlass siehst. Aber vielleicht zieht er ja einen finanziellen Nutzen aus ihrem Tod. Er könnte erbberechtigt sein. Der ganze Hokuspokus mit dem Tisch und dem Stuhl in der Mitte des Hotelzimmers könnte nur dazu dienen, uns in die Irre zu führen.«
Plötzlich erlosch, von einem sanften Klacklaut begleitet, die Treppenhausbeleuchtung. Einige Sekunden verharrten sie in völliger Dunkelheit. Dann trat Born einen Schritt an sie heran und betätigte den Lichtschalter an der Wand in ihrem Rücken.
»Also«, setzte er an, als er sich wieder von ihr entfernt hatte, »wenn du tatsächlich recht hast und es Milan Tassen war, warum wählte er dann als Tatort das Hotel?«
»Teil des Ablenkungsmanövers.«
»Und wie brachte er seine Stiefmutter dazu, das Zimmer zu buchen?«
»Keine Ahnung, unter irgendeinem Vorwand.«
»Mir fällt kein möglicher ein.«
»Mir bis jetzt leider auch nicht. Aber was heiÃt das schon, in der Mordsache Selma Tassen gibt es noch reichlich offene Fragen.«
Born nickte. »Beispielsweise, was mit dem Anruf im Fitnessstudio war. Kam der vom Mörder, oder hat der gar nichts mit der Tat zu tun?«
»Rätselhaft ist auch, was
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