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Die Stunde des Löwen

Die Stunde des Löwen

Titel: Die Stunde des Löwen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alexander Köhl
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Auerfeldstraße entlanggelaufen war, bog er in Richtung Lohrberg ab. Der Anstieg wurde steiler. Seine Atemfrequenz erhöhte sich. Das erkannte er auch an den vielen weißen Wölkchen, die sein Mund in immer kleiner werdenden Intervallen ausstieß. Seine Schritte hingegen wurden kürzer, und der Lichtkegel der Stirnlampe begann, unruhig über den Schnee zu tanzen. Erste Anzeichen konditionaler Schwäche. Offenbar hatte er nicht seinen besten Tag erwischt. Verärgert spuckte er in den Schnee und kämpfte sich weiter die Steigung hinauf. Um sich abzulenken, ging er im Geist seine Freundinnen vor Anne durch. Vielleicht sollte er zu einer von ihnen Kontakt aufnehmen. Getreu dem Motto: Alte Liebe rostet nicht. Er beschloss, die sozialen Netzwerke nach ihnen zu durchforsten, wenn er später von der Arbeit heimkehrte. Diesen festen Vorsatz im Kopf, schaute er seitlich den Hang mit den verschneiten Weinstöcken hinab. In der Ferne erstreckten sich die Lichter der erwachenden Städte. Als er seinen Blick wieder nach vorne richtete, sah er, dass es bis zum Kamm nicht mehr weit war. Unscharf zeichneten sich die Umrisse der Parkbänke vor dem dunklen Morgenhimmel ab. Doch was war das? Auf einer glaubte er die Silhouette von mindestens einer menschlichen Gestalt zu erkennen. Leute, die bei gefühlt arktischen Temperaturen im Freien hockten? Intuitiv begann er, seinen Schritt zu verlangsamen. Nicht dass er noch von irgendwelchen vollgedröhnten Typen angemacht wurde. Einen Moment lang überlegte er, einen Bogen zu schlagen. Doch je näher er der Parkbank kam, desto sicherer wurde er, dass dort nur eine Person saß. Merkwürdig war nur, dass sie sich nicht bewegte.
    * * *
    Ein Gähnen unterdrückend, verteilte Born das letzte Häufchen Rasierschaum auf seiner Wange. Obwohl er gerade der Dusche entstiegen war, fühlte er sich immer noch hundemüde. Was sicher auch daran lag, dass er sich bis weit nach Mitternacht Aufzeichnungen von »Bauer sucht Frau« reingezogen hatte. Seit der vierten Staffel hatte er an der trashigen Dokusoap einen Narren gefressen. Und dann war er auch noch – bei der Szene, in der sich die dralle Dunkelhaarige von dem nordfriesischen Schweinebauern mit dem Traktor vom Bahnhof abholen lässt – auf seiner unbequemen Couch eingeschlafen.
    Als das Diensthandy klingelte, hätte er sich vor Schreck beinahe ins Kinn geschnitten. Fluchend wischte er sich den Rasierschaum aus dem Gesicht und hastete aus dem Bad.
    Nicht einmal eine halbe Stunde später saß er neben Mannfeld auf dem Beifahrersitz. Ein angenehmer, leicht nach Vanille riechender Duft erfüllte das Wageninnere. Als hätte sich Mannfeld in einer Backstube herumgetrieben. Wegen seines zurzeit so unzuverlässigen Gefährts hatte sie sich freundlicherweise angeboten, ihn abzuholen. Obwohl die Maybachstraße alles andere als auf ihrem Weg zum Fundort lag. Neuerdings residierte sie mit Supernanny Jan und Söhnchen Henry in einer Vier-Zimmer-Wohnung in Sachsenhausen. Stilvoll in einem Altbau in der Gutzkowstraße, was für eine nach BAT besoldete Beamtin und ihren pointenschreibenden Mann überaus beachtlich war.
    Eine kräftige Windböe trieb Wolken winziger Eiskristalle in Borns Gesicht. Mit einer Hand den Kragen seines Mantels zuhaltend, steuerte er nur wenige Schritte hinter Mannfeld auf den auf einer Parkbank abgelegten Leichnam zu. Eine tote Frau, die in sitzender Haltung den Hang hinunterzuschauen schien. Die hinter dem Großkrotzenburger Kohlekraftwerk aufgehende Sonne warf ein schwaches Licht auf die linke Körperhälfte des Opfers. Die rechte war fast vollständig von einer dünnen Schneeschicht bedeckt.
    Aus der Entfernung hatte die einsam in der malerischen Schneelandschaft sitzende Gestalt in Born Assoziationen zu Hans Christian Andersens Märchenwelt geweckt. Doch bei näherer Betrachtung bekam das märchenhafte Bild einen gewaltigen Riss. Eine etwa faustgroße, blutverkrustete Wunde klaffte am Hinterkopf der Toten. Der von dunklem Lippenstift verschmierte Mund stand offen, und ein gefrorener Speichelfaden klebte an der Haut zwischen Unterlippe und Kinn. Die Fingernägel waren mit schwarzem Lack überzogen. Der Oberkörper wirkte im Verhältnis zu ihrem gewaltigen Gesäß und den dicken Oberschenkeln filigran.
    Wären die Proportionen umgekehrt, dachte Born, als er vor der Bank in die Hocke ging, würde das Konstrukt

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