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Die Stunde des Löwen

Die Stunde des Löwen

Titel: Die Stunde des Löwen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alexander Köhl
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Frankfurt. Die Reifen eines neben ihr fahrenden Lastzugs schickten Schmutzwasserfontänen auf die Windschutzscheibe des Dienstwagens. Als sie die Scheibenwischeranlage betätigte, spritzte nur ein jämmerlich dünner Strahl aus den Düsen. Fluchend hoffte sie, dass die Reinigungsflüssigkeit noch bis ins Präsidium reichte und sie den letzten Teil der Strecke nicht im Blindflug zurücklegen musste.
    Wenige Kilometer nach dem Mönchhof-Dreieck tauchte linker Hand »The Squaire« auf. Ein futuristisch anmutendes Bürogebäude, das aufgrund seiner außergewöhnlichen Architektur mit den Spitznamen »Wal«, »Zigarre« und »liegendes Hochhaus« bedacht worden war. Rechts der Fahrbahn lag das Sheraton. Das Hotel, in dem Selma Tassen ihren Mörder getroffen hatte. Der Besuch im Sexshop, das Aktbild mit dem erigierten Glied über dem Bett und der Marquis de Sade im Bücherschrank – mittlerweile deutete wirklich einiges darauf hin, dass die alte Dame dem Thema Sex und/oder Pornografie nicht abgeneigt gewesen war. Sollte ihr dies zum Verhängnis geworden sein? Der oder die Artikel, die sie im Erotikladen erstanden hatte, waren allem Anschein nach nicht bei Simon Patenstein zum Einsatz gekommen. Die Scham des Antiquitätenhändlers bei seinem Eingeständnis, dass sich die Liebesbeziehung zwischen ihm und Selma Tassen nicht auf intimer Ebene abgespielt hatte, hatte authentisch gewirkt. Wie hoch war die Wahrscheinlichkeit, dass es im Leben der Verstorbenen noch einen weiteren Mann gegeben hatte? Einen, mit dem sie ihre sexuellen Bedürfnisse befriedigt hatte? Womöglich hatte Born mit seiner Geheimnisvoller-Liebhaber-Theorie tatsächlich ins Schwarze getroffen, und ihre anfängliche Ablehnung gegen diesen Ansatz war voreilig gewesen. Es mochte naiv sein, aber es fiel ihr immer noch schwer, sich vorzustellen, dass Frauen, die älter als ihre Mutter waren, sexuell aktiv waren. Und Martha Rosen? Konnte nicht auch sie …? Immerhin hatte sie am Abend ihrer Ermordung das Haus verlassen, ohne ihrem ahnungslosen Ehemann ein Sterbenswörtchen davon zu sagen.
    * * *
    Als Fremden aufwachte und den Kopf in Richtung Nachttisch drehte, glaubte er im ersten Moment, seine Sinne würden ihm einen Streich spielen. Doch auch nachdem er sich ausgiebig die Augen gerieben hatte, standen die Zeiger auf dem Ziffernblatt des Weckers immer noch auf kurz nach halb zwölf. Irritiert schaute er sich im Zimmer um. Durch die Lamellen der Fensterläden drang Sonnenlicht und malte Querstreifen auf die Tapete. Im Halbdunkel erkannte er den antiken Kleiderschrank mit den Buntglaseinlagen, den stummen Diener und das Bocksgeweih an der Wand über der Schlafzimmertür.
    Während er sich in seinem Schlafsack auf dem Bett aufrichtete, kehrte die Erinnerung an die vergangene Nacht allmählich zurück – und an das, was sich Spektakuläres ereignet hatte: der Einbruch, das konspirative Treffen von Rosen und dem Wasserstoffblonden an der Raststätte, der Transport der Prostituierten zum Eroscenter. Von Dreieich aus war er nach Bad König zurückgefahren, um nachzusehen, welche Schäden beim Eindringen ins Haus und dem Durchstöbern des Inventars verursacht worden waren. Glücklicherweise war außer der Terrassentürscheibe nichts Nennenswertes zu Bruch gegangen.
    Nach Beendigung der Inspektion war seine Müdigkeit wie weggeblasen gewesen. Noch lange hatte er im Wohnzimmer gesessen und zur Beruhigung seines Nervenkostüms auf dem iPod die melancholischen Songs von Johnny Cash gehört.
    Er stand auf und setzte in der Küche Kaffeewasser auf. Während er auf das Pfeifen des altmodischen Kessels wartete, blickte er aus dem Fenster. Die Haflinger standen auch heute wieder zu einem trauten Grüppchen formiert auf der Koppel. Nur meinte er, dass eins der Tiere fehlte. Vielleicht stand es ja mit Schnupfen im Stall. Während er darüber sinnierte, weshalb Pferde – obwohl sie durch die geschlossene Schneedecke keine Nahrung fanden – auch in den Wintermonaten tagsüber im Freien blieben, läutete sein auf dem Küchentisch liegendes Handy.
    Â»Spreche ich mit dem Detektiv Jonas Fremden?«
    Er erkannte Vera Kaczorowskis tiefe Stimme sofort.
    Â»Ja, das tun Sie«, antwortete er und spürte den kleinen Stich der Enttäuschung, dass es nicht Liliana Bode war, die seine Nummer im Speicher gesehen hatte und nun

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