Die Stunde des Mörders: Roman (German Edition)
scheußlich war, war auch Aberdeen scheußlich: graue Häuser, grauer Himmel, graue Straßen und graue Menschen; doch wenn die Sonne herauskam, war alles wie verwandelt. Dann glitzerte die Stadt aus Granit, und ihre Bewohner tauschten ihre Anoraks, Parkas und Dufflecoats gegen Jeans, T-Shirts und kurze Sommerkleidchen. Als dann aber eine kesse Brünette in einem winzigen Blümchen-Minirock und noch knapperer Bluse vorbeitippelte und ihren appetitlich gebräunten Bauch zur Schau trug, sah DI Steel nicht einmal hin.
Auf der anderen Straßenseite blieb eine Blondine, mehr oder weniger bekleidet mit tiefergelegten Jeans und einem superkurzen Trägerhemdchen, am Bordstein stehen, um ein Taxi heranzuwinken, und legte dabei mehr nackte Haut frei, als die ganze Stadt in einem Jahr zu sehen bekommen hatte. Immer noch kein Kommentar von DI Steel. »Alles okay mit Ihnen?«, fragte Logan.
Steel zuckte mit den Achseln. »Hab die Nacht nicht viel Schlaf gekriegt. Und bevor Sie weiterfragen: Es geht Sie nichts an.«
Na schön, dachte Logan. Du mich auch.
In der Mitte der Union Street wurde die Häuserreihe von den Union Terrace Gardens durchbrochen, einer Insel aus frischem Grün, die sich bis zu der prächtigen Fassade von His Majesty’s Theatre hinzog. Der Park hatte die Form eines abgesenkten Rechtecks mit steilen, grasbewachsenen Böschungen an beiden Längsseiten, auf denen mächtige Buchen wuchsen. Unten in der Senke stand ein kleiner Musikpavillon, dessen frischer Anstrich in der Sonne glänzte. Und am anderen Ende bot die Blumenuhr dem wolkenlosen Himmel und der warmen Augustsonne ihre bunte Blütenpracht dar. Eine Postkartenidylle.
An einer Ecke der Union Terrace hielt König Edward VII. Hof, in Form einer großen Statue aus weißem Marmor, die königlichen Schultern mit Taubendreck verziert. Hinter dem König standen einige Bänke im Halbkreis; dort hatten sich um zehn nach neun an diesem Mittwochmorgen seine engsten Berater versammelt, um starken Cider und Bier aus Dosen zu trinken.
Es war ein ziemlich bunter Haufen: ein oder zwei echte Penner, vorschriftsmäßig ausstaffiert mit verdreckten Anzughosen, fleckigen Unterhemden und verkrusteten Geschwüren, dazu ein paar Gestalten in Jeans und – dem strahlenden Sonnenschein zum Trotz – schmuddeligen Lederklamotten. Steel ließ den Blick über die morgendlichen Freilufttrinker schweifen und zeigte auf eine junge Frau mit Piercings in Ohren, Nase und Lippen, dickem schwarz-weißem Make-up und strähnigem, pink gefärbtem Haar. Sie hatte eine Dose Red Stripe Lager in der Hand, aus der sie ab und zu einen Schluck nahm.
»Morgen, Suzie.« DI Steel schnippte die letzten anderthalb Zentimeter ihrer Kippe über das Geländer. »Was macht eigentlich dein kleines Brüderchen?«
Bei näherem Hinsehen erwies sich das Mädchen als nicht ganz so jung, wie Logan zuerst gedacht hatte. Keinen Tag jünger als fünfunddreißig, schätzte er. Die dicke Schicht weißer Schminke überdeckte nicht nur Pickel, sondern auch die Spuren der Zeit. Ihre Haut war großporig, ihr schwarzlippiger Mund faltig wie ein Hühnerpo. Als sie ihn aufmachte, kam breitestes Aberdonian heraus. »Hab den lütten Mistkerl seit Wochen nich’ mehr gesehn.«
»Nicht?« Steel ließ sich grinsend neben ihr auf die Bank plumpsen. Sie legte den Arm auf die Rückenlehne, sodass er die Schultern der Frau umschloss.
Suzie rückte genervt von ihr ab. »Willst du mich anmachen, ey?«
»Hättest du wohl gerne. Nee, ich bin nur hinter deinem kleinen Bruder her. Wo ist er?«
»Woher soll ich denn das wissen, Mann?« Suzie nahm einen tiefen Zug aus ihrer Bierdose. »Der vögelt doch die ganze Zeit nur mit seiner ollen Nutte rum.«
»Komisch, dass du ausgerechnet die erwähnst, Suzie – die ›olle Nutte‹ ist nämlich zufällig gestern Morgen tot aufgefunden worden – zu Tode geprügelt, genauer gesagt. Und Jamie war doch schon immer schnell mit den Fäusten dabei, nicht wahr?«
Die Frau wurde stocksteif. »Jamie hat niemand umgebracht.« Was wollte Steel eigentlich damit erreichen? Logan konnte geradezu sehen, wie die Frau dichtmachte – jetzt würden sie nichts mehr aus ihr herausbekommen! Steel hätte es ganz ruhig angehen sollen, die Sache herunterspielen, anstatt gleich mit der verdammten Tür ins Haus zu fallen! Kein Wunder, dass sie den Versagerclub anführte.
»Ich mach dir ’nen Vorschlag«, sagte Steel und reichte Suzie eine eselsohrige Visitenkarte der Grampian Police. »Du denkst ein bisschen
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