Die Stunde des Mörders: Roman (German Edition)
passiert – und zu der Zeit saß Jamie in Craiginches hinter Gittern.«
Steel seufzte. »Ich weiß. Aber man wird ja wohl noch träumen dürfen.«
Punkt halb zwei, und im Leichenschauhaus des Polizeipräsidiums wurde es allmählich eng. Neben Isobel, ihrem Assistenten Brian, DI Steel und Logan waren auch die stellvertretende Staatsanwältin und ihre Chefin erschienen, dazu der vorgeschriebene zweite Rechtsmediziner – Doc Fraser –, ein Fotograf vom Erkennungsdienst, der Detective Chief Superintendent der Kriminalabteilung sowie der Erste und der Zweite Stellvertreter des Polizeipräsidenten. Ein regelrechtes Who’s who der Aberdeener Strafverfolgungsbehörden, alle getrieben von der Sorge, dass wieder ein Serienmörder in der Stadt sein Unwesen treiben könnte. Und dem Wissen, dass der Fall sich leicht zu einem politischen Alptraum ausweiten könnte, sobald die Medien davon Wind bekamen. Sogar der liebe Gott höchstpersönlich war gekommen – der Polizeipräsident, der den Ehrenplatz am Kopfende des Seziertisches eingenommen hatte. Logan fragte sich, ob er wohl das Tischgebet sprechen würde, bevor Isobel zum Tranchiermesser griff.
Logan konnte die gespannte Erwartung im Raum geradezu riechen, als Isobel mit der äußeren Besichtigung des Leichnams begann. Die Spurensicherungsexperten hatten die Leiche zunächst unter den wachsamen Blicken von Isobels Assistenten sorgfältig nach Materialspuren abgesucht und sie dann auf ihre Anweisung hin genau so drapiert, wie sie auf dem Waldboden gefunden worden war: auf der Seite liegend, die Beine auf der glänzenden Edelstahloberfläche scherenförmig gespreizt, einen Arm über den Kopf gestreckt. Die dicke violette Linie des nach unten gesickerten Bluts war wie mit der Wasserwaage exakt horizontal ausgerichtet. Sie hatten ihr die blaue Plastiktüte vom Kopf gezogen und das lädierte Gesicht mit den blutunterlaufenen, hervortretenden Augen freigelegt. Als ob sie die Neugierigen, die sich um den Seziertisch versammelt hatten, indigniert anstarrte. Irgendetwas an dem Bild ließ Logan frösteln. Das war etwas anderes als eine gewöhnliche Autopsie, bei der die Leiche stets auf dem Rücken lag, sauber gewaschen und aufgebahrt, steril und kalt. Hier, wo die Tote so auf dem Tisch lag, wie sie gefunden worden war, kam es ihm vor, als wären sie alle Voyeure, die dem letzten, intimen Moment ihrer irdischen Existenz beiwohnten. Als sei dies auch ein Teil der Inszenierung des Mörders. Der letzte Auftritt einer geprügelten, malträtierten Schauspielerin. Wieder schauderte Logan. PC Steve hatte schon recht: Er hatte eine verdammt kranke Fantasie.
Drei Stunden später standen Isobels Zuschauer mit bleichen Gesichtern und weichen Knien in einem Besprechungsraum im zweiten Stock herum und waren auffallend still. Ein zufällig vorbeikommender Uniformierter war zum Kaffeeholen geschickt worden – nicht die Plastikbrühe aus dem Automaten, sondern richtiger Kaffee, wie er für Meetings auf höchster Ebene und besondere Anlässe reserviert war. Der Polizeipräsident meinte, den könnten sie jetzt alle gebrauchen, und Logan wäre der Letzte gewesen, der ihm da widersprochen hätte.
Isobel stand mit Doc Fraser in der Ecke und hörte sich bescheiden lächelnd an, wie er sie für die exzellente Obduktion lobte. Sehr gründlich. Sehr aufschlussreich. Hinter Logans Rücken murmelte jemand: »Mein Gott, musste sie dem armen Ding denn unbedingt das Gesicht abziehen?« Vorne bei der Tür sagte der Polizeipräsident gerade etwas zur Staatsanwältin, und beide lachten. Die neue stellvertretende Staatsanwältin brachte ein pflichtschuldiges Lächeln zustande, doch sie war immer noch leicht grün im Gesicht. Nachdem das Gelächter sich gelegt hatte, schlug der Erste Stellvertretende Polizeipräsident mit dem Löffel dreimal gegen seine Porzellantasse, und die Gespräche verstummten. Es war Zeit, die Obduktion zu obduzieren. Isobel referierte die Abfolge der Ereignisse aus ihrer Sicht und illustrierte die wichtigsten Punkte auf der Weißwandtafel mit Diagrammen von Schädel-, Rippen- und sonstigen Frakturen. Wie eine makabre Version von Pictionary .
»Die Todesursache war Ersticken«, sagte sie und zog einen roten Kreis um den Kopf des Körpers, den sie an die Tafel gezeichnet hatte, »zum Teil hervorgerufen durch die Plastiktüte, die dem Opfer über den Kopf gebunden wurde, zum Teil auch durch einen Pneumothorax: Die Enden der vierten und fünften Rippe haben die rechte Lunge perforiert. Der
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