Die Stunde des Puppenspielers: Thriller (German Edition)

einem örtlichen Pub. Was für eine Ironie: Pro Jahr reisten siebzehn Millionen Briten von Großbritannien nach Spanien, um dort Ruhe und Entspannung zu finden; Danny gehörte wahrscheinlich zu der Handvoll, die gezwungen war, das genaue Gegenteil zu tun. Er hatte sich am Abend zuvor für dieses Reiseziel entschlossen, eine von Wut und Wein motivierte Entscheidung: Mit seiner Mutter auf der einen und Michael Thorndyke auf der anderen Seite bestand kaum die Chance, in Spanien so etwas wie Ruhe und Entspannung zu finden. Also hatte er beschlossen, nach Fleet und in seine Vergangenheit zurückzukehren.
    Die Spinnweben seiner Erinnerungen lauerten schon zu lange in seinem Kopf, die beunruhigende Ahnung, dass sein Lauf zur Sonne eigentlich ein Davonlaufen gewesen war. Es war Zeit, sich dieser Tatsache zu stellen. Außerdem, wenn er eine Verbindung zwischen dem Vogelscheuchen-Prozess und der Leiche in Alan Reades Haus herausfinden wollte, konnte er das nur in Fleet tun.
    Aber was sollte er mit dem Rest der Zeit anstellen? Ein Schloss besuchen? Einen Tag in London verbringen? Wie auch immer, Entscheidungen hatten bis morgen Zeit, heute wollte er einfach nur entspannen. Und Denise besuchen. Er hatte seit Rays Beerdigung vor acht Jahren nicht mehr mit ihr gesprochen.
    Das war nicht richtig.
    Es war merkwürdig, wieder in seinem alten Revier zu sein. Ein ganzes Jahrzehnt lang hatte er über das Leben der Menschen in dieser Stadt berichtet, und doch erkannte er keinen einzigen auf der Straße. Es war erstaunlich, wie die Zeit sich verdichten und die Vergangenheit ersticken konnte: Von seiner Version von Fleet schien keine Spur mehr zu existieren. Läden, an die er sich erinnerte, waren jetzt leere Grundstücke. Pubs hatten andere Namen. Und überall waren Coffeeshops aus dem Boden geschossen.
    Er ging zur Stadtbibliothek und fragte nach Mikrofiche-Kopien des Fleet Bugle von März bis November 1995. Nachzulesen, was er damals über den Vogelscheuchen-Prozess geschrieben hatte, war ein guter Zeitvertreib, während er sich überlegte, was er mit dem Rest seines Urlaubs anfangen sollte. Außerdem wollte er unbedingt herausfinden, wie sehr sein Stil sich in fünfzehn Jahren gewandelt hatte.
    »Dazu muss ich runter ins Archiv«, erklärte die Bibliothekarin. »Sind Sie sicher, dass Sie sonst nichts brauchen?«
    Danny nickte. Er war sicher, dieser Zeitraum war seinem Gedächtnis unauslöschlich eingeprägt. Es war die erste große Story, über die er berichtet hatte, der wahr gewordene Traum eines Reporter-Greenhorns – ein richtiger Serienmörder, der nur sechs Monate nach Dannys Berufseinstieg die Straßen Südenglands unsicher machte.
    Es war lange her, dass er zum letzten Mal ein Mikrofiche-Lesegerät benutzt hatte. Es wäre einfacher gewesen, direkt in die Redaktion zu gehen und dort die Akten durchzusehen, aber er wollte The Bugle meiden, so gut es ging: zu viele Erinnerungen.
    Er fing mit dem Artikel an, den er und Ray Taylor nach der Entdeckung der ersten Leiche geschrieben hatten: KINDER FINDEN BUNKERGRÄUEL .
    Die verstümmelte Leiche war die größte Sensation, die je in Fleet passiert war: ein Leichenfund im Wassereinzugsgebiet, einer riesigen Fläche aus Hügeln, Heide und Wald zwischen Fleet, Aldershot und Farnham. Danny wusste noch sehr gut, dass Ray Taylor ihn eigentlich gar nicht hatte mitnehmen wollen, denn es war eine Geschichte, die höchstwahrscheinlich national einschlagen würde und deshalb rechtmäßig dem altgedienten Reporter von The Bugle zustand. Aber die Polizei hatte den einzigen Zugang zum Fundort abgesperrt. Man kam nicht rein – außer man kannte den Schleichweg durch den Wald. Und Danny kannte ihn, er war als Kind mit seinem BMX -Rad in diesem Waldstück herumgesaust.
    Am hinteren Ende des Sperrgebiets verlief ein Fußpfad, der schnurgerade die steile Flanke eines Hügels hochführte. Fallschirmjäger aus der nahen Kaserne in Aldershot nutzten das Gelände als Übungsplatz. Danny führte Ray Taylor dort hinauf, und der Veteran versuchte dabei zu verbergen, wie außer Atem er war. So erreichten sie das Sperrgebiet von der anderen Seite, wo die Polizei nicht so genau hinschaute.
    Der rote Bunker – Teil einer hastig errichteten Verteidigungslinie gegen die Nazis – war von Flutlichtern erhellt, in deren grellem Schein sich die astlosen unteren Stämme der Fichten, die hier zu Hunderten dicht beieinanderstanden, als Silhouetten abzeichneten. Polizisten bauten eben ein weißes Zelt über dem