Die Stunde des Puppenspielers: Thriller (German Edition)
Bunker auf. Danny bot an, sich mit Rays alter Kamera nach vorne zu schleichen, um herauszufinden, ob er vielleicht einen Schnappschuss des Bunkerinnern machen konnte.
Ein Beamter der Tatortsicherung tauchte auf, als Danny noch zwanzig Meter entfernt war. Der Mann zitterte am ganzen Leib. Und dann klickte im Bunker die Kamera des Tatortfotografen. Für einen Sekundenbruchteil erhellte der Blitz den Innenraum, und die torlose Öffnung des Bunkers zeigte ein Bild, das auch fünfzehn Jahre später noch deutlich in Dannys Gedächtnis eingebrannt war: eine nackte Leiche, die, mit einer Kette gefesselt, von in die Decke eingelassenen Haken hing. Und dieses Gesicht. Das gleiche Gesicht, das er auch in der Wand von Alan Reades Haus gesehen hatte: die Zopfperücke, das so grauenvoll verschmierte und entstellende Make-up. In diesem Sekundenbruchteil war es, als würde das Gesicht des Opfers schmelzen.
Danny – damals kaum einundzwanzig – schrie auf. Polizisten wirbelten herum, jagten ihn mit wütenden Worten davon. Ein ranghoher Beamter beklagte sich heftig bei Ray Taylor: »Wenn dieses kleine Arschloch uns irgendwelche Fußabdrücke zertrampelt hat, dann mache ich euch die Hölle heiß.« Ray Taylor ließ sich nicht einschüchtern und verteidigte seinen jungen Kollegen. So stellte Danny zum ersten Mal fest, dass er den Mann tatsächlich mochte – auch an seinen besten Tagen war Taylor ein mürrischer alter Knacker.
Danny bewegte den Mikrofiche. Erst im Verlauf der nächsten achtundvierzig Stunden sickerte das wahre Grauen des Verbrechens durch. Die Polizei postierte Beamte vor den Häusern der Jungen, die die Leiche gefunden hatten. Die Familien wurden psychologisch betreut. The Fleet Bugle brachte eine vierseitige Sonderbeilage mit allen Details, die man über den Mord wusste, und der Bitte an eventuelle Zeugen, sich zu melden. Besitzer weißer Transporter in der Gegend wurden aufgespürt und befragt, insgesamt mehr als siebentausend. Und dann fand man außerhalb von Andover eine zweite Leiche, und die schlimmsten Befürchtungen der Öffentlichkeit wurden Realität: Das Verbrechen in Fleet war erst der Anfang. Das Entsetzen verwandelte sich in Wut, als die Opferzahlen stiegen und bekannt wurde, dass der Mörder es vor allem auf junge, attraktive Männer abgesehen hatte, meist aus der Mittelklasse und mit Freundinnen. Als ein Zeuge angab, einen dünnen, zerlumpten Mann gesehen zu haben, war für den Mörder ein Spitzname gefunden: die »Vogelscheuche«.
Danny überflog den Rest der Berichterstattung in The Bugle. Ray Taylor hatte das meiste davon geschrieben, da aber Danny von Anfang an mit dabei war, wurde er zu seiner inoffiziellen Nummer zwei. Das sorgte für ziemlich viel böses Blut: Einige andere Reporter hatten zwanzig Jahre für diese Zeitung gearbeitet, ohne je eine Chance auf etwas ähnlich Sensationelles zu erhalten. Aber so war Ray eben: Ein wenig böses Blut hielt ihn nie davon ab, genau das zu tun, was er tun wollte, und zwar genauso, wie er es wollte.
Zum ersten Mal erlebte Danny, wie aufregend es sein konnte, Reporter zu sein und gut informiert über Themen, die alle interessierten. 1995 redeten die Leute über nichts anderes, und keiner redete mehr als Danny Sanchez, der damals einundzwanzig war, aber wirkte wie vierzig; der sich in den Biergärten von Pubs ausließ über die Details der polizeilichen Ermittlungen und die klaffenden Lücken in seinem Wissen mit einem gewieften Zwinkern und einem kurzen Tippen an die Nase überspielte – das darf ich dir nicht sagen, Kumpel. Er musste lächeln, als er daran dachte. Mein Gott, was für ein widerlicher kleiner Scheißer musste er damals gewesen sein. Die Popularität war ihm zu Kopf gestiegen. Das erste Mal in seinem Leben hörte jemand auf ihn.
Danny ging die gesamte Berichterstattung über den Mord durch. Nachdem Ishmael Vertanness verhaftet worden war, schwand das Interesse an dem Fall, und neue Geschichten traten an seine Stelle. Nach einer Stunde hatte Danny genug gesehen. Mit aufgefrischten Erinnerungen fuhr er zu Ray Taylors Haus.
Müsste Danny den einen Menschen nennen, der ihm alles beigebracht hatte, würde er Ray Taylor sagen. Doch eigentlich hatte Taylor ihm gar nichts beigebracht. »Schreib mir eine Liste mit allem, was du bis jetzt gelernt hast«, forderte Taylor Danny am Ende der ersten Woche bei The Bugle auf.
Danny klappte der Kiefer herunter. »Aber Sie haben mir gar nichts beigebracht.«
»Sollte ich auch nicht müssen. Ein
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