Die Stunde des Raben
Töten führt, brecht sie ohne Zweifel ab. Es gab auch immer wieder dunkle Fluten, lasst euch das gesagt sein. Sie versprechen viel Wissen und führen doch nur zu Zerstörung.«
»Das ist keine dunkle Flut«, sagten Rufus und No gleichzeitig.
Überrascht sahen sie sich an.
Meister Zachus lächelte. »Gut, wenn ihr euch so einig seid.« Er nahm seine Stäbchen wieder auf und fischte nach einem weiteren Stück Fleisch. »Tatsächlich Schlange«, murmelte er. Dann hob er wieder den Kopf: »In den kommenden zwei Tagen werden die Flutmarkthändler bei uns eintreffen. Es wäre vielleicht besser, wenn ihr euch nicht gerade mitten unter allen anderen aufhaltet, so kurz vor dem Flutmarkt. Die meisten arbeiten außerdem noch an der Bestimmung ihrer Flutmarktartefakte. Wie ist das bei euch?«
»Wir sind noch nicht fertig, aber wir dachten, die Flut geht vor«, sagte Filine schnell.
»Wie ihr wollt. Ohne die Artefakte bestimmt zu haben, würdet ihr den Flutmarkt allerdings nur teilweise miterleben. Und in jedem Fall ist es nicht besonders günstig, wenn andere jetzt mit euch in die Flut geraten. Habt ihr darüber schon mit Direktor Saurini gesprochen? Solltet ihr nicht besser in einen Flutraum gehen?«
»In einen was?«, fragte No.
»In einen abgelegenen Raum, in den außer euch niemand kommt«, erwiderte der Meister.
»Okay«, meinte No. »Das dachten wir uns auch. Wir waren bisher in unseren Zimmern oder in der Bibliothek.«
»Ja, aber das ist noch zu nah. Geht bitte zu Direktor Saurini und sagt ihm Bescheid. Ach, No, da fällt mir doch noch etwas ein. Stechpalme gehörte auch zu den heiligen Bäumen der Kelten. Ihre Zweige dienten als Schutz und als Hilfe bei schweren Herausforderungen.«
»Danke, Meister Zachus.«
»Wenn ihr sonst noch Hilfe braucht, könnt ihr euch jederzeit an mich wenden.« Der Meister schob sich noch mehr Fleisch in den Mund, hob seine immer noch dampfende Schale zum Gruß, und nahm an einem dreibeinigen, mit Schnitzereien verzierten Tisch Platz.
»Und wir gehen jetzt zu Direktor Saurini«, sagte Filine eilig.
»Aber wir haben noch gar nichts gefrühstückt«, widersprach No.
»Da hinten kommt Coralia«, flüsterte Filine. »Und ich habe keine Lust auf blöde Sprüche!«
Doch es war schon zu spät. Coralia hatte sie ebenfalls erblickt und kam bereits auf sie zu.
Wieder war sie überaus extravagant angezogen und trug einen himmelblauen, an Brust und Ärmeln goldbestickten knöchellangen Kaftan.
»Na, auch schon so früh zum Frühstück? Wisst ihr, was es heute gibt?«
»Schlangenfleisch mit Stäbchen«, brummte No.
»Oh, chinesisches Frühstück!« Coralia leckte sich über die Lippen. »No, das ist ja genau das Richtige für dich. Stäbchen sind aus Holz, und du bist doch die ganze Zeit auf dem Holzweg, oder?« Sie kicherte albern. Dann sah sie Rufus lächelnd an. »Wollen wir zusammen frühstücken? Wenn es Schlange gibt, gibt es bestimmt auch Mifun Sol-Eier in rotem Essigaufguss, und das schmeckt wirklich ganz ausgezeichnet.«
»Wir haben jetzt leider keine Zeit«, unterbrach sie Filine.
»Warum denn nicht, seid ihr vielleicht in einer Flut? Was für ein ungünstiger Zeitpunkt, so kurz vor dem Flutmarkt.« Coralia beugte sich vor und zupfte Rufus am Ärmel. »Und dabei wollte ich dir noch so gern ein paar hübsche kleine Artefakte zeigen, die ich dort verkaufen werde.«
»Wieso ein paar?«, fragte No. »Jeder hat doch nur eins bekommen!«
»Ich bin doch nicht jeder«, gab Coralia lässig zurück. »Ich meine, ich kann mich mit mehreren Dingen gleichzeitig beschäftigen. Aber ehrlich gesagt geht dich das auch nichts an. Ich wollte das eigentlich nur mit Rufus besprechen.« Wieder schenkte sie dem Lehrling ein Lächeln. »Komm, Rufus, wir holen uns mal etwas von der gebratenen Schlange.«
Ohne seine Antwort abzuwarten, zog sie Rufus mit festem Griff hinter sich her Richtung Feuerstelle. Als sie weit genug von den anderen weg waren, um nicht mehr gehört zu werden, sagte sie: »Hast du sie in deine Traumflut mitgenommen?«
Rufus schnappte nach Luft.
»Nein, überhaupt nicht. Es ist Nos Flut.«
»Tu doch nicht so!« Coralias Gesicht berührte fast das seine. »Welches Tier ist denn nun dein Führer? Willst du es mir nicht auch einmal zeigen?«
Rufus sah sie stumm an.
Coralia erwiderte seinen Blick. Dann lächelte sie zart.
»Na gut«, gab sie nach. »Aber du musst mit mir zum Flutmarkt kommen. Ich habe dir nämlich einiges zu zeigen, wenn ich schon nicht in deine Träume
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