Die Stunde des Raben
Freiheit der Künste und Wissenschaften unterstützt, damit sie sich entfalten können, wirtschaftet gerecht.«
»Aber das hieße doch, dass ihr Händler dazu verpflichtet wärt, uns faire Angebote zu machen, um uns unsere Arbeit hier zu ermöglichen?«, schallte in diesem Moment Filines Stimme durch das Gewölbe.
»Aber ja«, gab McPherson zu. »Es war nie anders!«
»Und warum verhandeln wir dann so hart und feilschen um jeden Dukaten?«
»Dukaten?«, rief Hadschi Ben Sadek und lachte. »Diese Währung gibt es schon lange nicht mehr!«
»Wir haben dennoch darum verhandelt«, sagte jetzt Ok-Hee Ju und kehrte mit Filine ebenfalls aus den Tiefen der Gewölbe zurück. »Filine und ich haben uns darauf geeinigt, dass ich die Kiste, bevor ich sie verkaufe, mit einem Goldschatz aus aller Herren Länder füllen werde, und zwar von den ersten bekannten bis zu den letzten verschwundenen Münzen, um sie so als Sammlung des Ducs von Henry zu präsentieren.«
»Des Ducs von Henry?«, fragte James McPherson interessiert.
»Es gab ihn nie«, sagte die kleine Asiatin verschmitzt. »Aber da es hier um einen Geldsafe geht, haben wir uns überlegt, dass sein innerer Wert für jeden Sammler noch sehr viel bedeutender sein könnte als sein äußerer. Mit anderen Worten: dass ein voller Safe sicher mehr einbringen wird als ein leerer. Und da ich über nahezu alle notwendigen alten Münzen verfüge und mir bis heute nicht ganz sicher war, wie ich sie jemals unter die Leute bringen wollte, scheint mir dies endlich der richtige Schritt. Natürlich kann ich das nicht auf dem Flutmarkt machen, ein solches Geschäft erfordert eine umfangreichere Vorbereitung.«
Ok-Hee Ju richtete sich auf. »Danach dürfte das Bestehen der Akademie über mehrere Jahre gesichert sein. Ich danke dir für diese wunderbare Idee, liebe Freundin Filine.« Sie sah Filine mit einem aufrichtigen Lächeln an. »Es war ein Vergnügen, mit dir Pläne zu schmieden.«
Filine lächelte dankbar. Dann fragte sie mit ernster Miene: »Aber meine Frage hat mir noch niemand beantwortet: Wenn im Handel Brüderlichkeit herrschen soll, warum kämpfen wir dann hier bei unseren Verhandlungen um jeden noch so kleinen Vorteil? Das ist doch nicht brüderlich!«
Der Hadschi sah sie freundlich an. »Wir feilschen und handeln mit euch, damit ihr es lernen könnt. Verhandlungsgeschick und Erfahrung im Handeln werden euch eines Tages zugute kommen. Vielleicht werdet ihr einmal Meister sein und die Akademie leiten. Vielleicht liegt ihre Zukunft eines Tages in euren Händen. Und dann müsst ihr gerüstet sein. Aber hat heute nicht jeder von euch ein faires Ergebnis erzielt?«
Die drei Lehrlinge nickten, ohne zu zögern.
»Und das lag auch an uns!«, schloss Hadschi Ben Sadek Abul Abbas Ibn Hadschi Titus della Bastion en Maroque. »Wir haben uns gegenseitig herausgefordert, und doch gehen wir nicht als Kontrahenten, sondern als Vertraute auseinander. Auch dazu kann Handel dienen.«
Ok-Hee Ju nickte und wandte sich dann dem Hadschi und James McPherson zu.
»Ähm, James und Hadschi Ben Sadek, da wäre noch etwas. Diese große Kiste ist zu schwer für mich, und ich würde euch bitten, sie mir nach oben zu tragen. Ich würde sie gerne an meinem Stand als Blickfänger aufstellen und mit einigen Dingen füllen. Die Marktbesucher werden sicher gerne in ihr wühlen, und einiges, das sich bisher als unverkäuflich erwiesen hat, kann ich so leichter loswerden.«
» Wir sollen das hochschleppen? Die ganzen Treppen?«, keuchte der Hadschi entsetzt.
»Männer!«, seufzte Ok-Hee Ju. Dann sagte sie: »Ja! Und zwar bitte gleich.«
James McPherson sah Rufus an. »Es wird ein interessanter Weg für den Kopf«, sagte der Händler. »Ich werde dich wissen lassen, wenn ich Erfolg gehabt habe.«
Er schlug den Kopf der Nike, wie es zuvor Hadschi Ben Sadek mit dem Zopfhalter getan hatte, in ein schweres Tuch ein, nur dass seins aus grüner Wolle war.
»Und bevor ich es vergesse, Rufus, ich habe dir die Anwendung des dritten Werts der Französischen Revolution auf das alltägliche Leben noch nicht genannt. Es ist die Gleichheit. Die Gleichheit herrscht nach unserer Regel für alle vor dem Gesetz. Ob Akademiker, Künstler oder Händler – gleich wer, jeder ist vor dem Gesetz gleich. Kein Recht darf mit Geld erkauft werden oder mit Wissen umgangen. Diese drei Werte sind die schwierigsten Regeln, die die Menschen je empfangen haben. Sie klingen, als seien sie klar und leicht einzuhalten, doch sie sind
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