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Die Stunde des Raben

Die Stunde des Raben

Titel: Die Stunde des Raben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Boris Pfeiffer
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Hochbegabte
    begrüßt ihre Gäste zum Tag der offenen Tür.
    Informationsstände und internationaler Flohmarkt
     
    Die große Tür zur Straße stand offen.
    Rufus, Filine und No wanderten staunend zwischen den Gästen, Lehrlingen und Gesellen und ihren Meistern und Meisterinnen umher. Es waren bestimmt mehr als fünfhundert Besucher anwesend, die sich alle auf dem Markt und genauso um das Buffet drängten, das Meister Spitznagel in der Vorhalle aufgebaut hatte.
    Dort gab es internationale Köstlichkeiten wie Sushi, Tapas, Dim Sum oder französischen Käse, wenngleich diese schicken, ein wenig feinschmecklerischen Häppchen auf die Lehrlinge, die ein historisches Angebot gewohnt waren, eher langweilig wirkten.
    No und Filine bedienten sich trotzdem.
    Rufus, der keinen Hunger verspürte, ging durch die Halle. Er blieb vor der Glasvitrine in der Mitte stehen. In ihr lagen auf einem dunkelblauen Kissen drei perlmuttschimmernde Scherben. Es waren die Überreste von Muscheln, wie Rufus herausgefunden hatte. Direktor Saurini hatte ihm einmal erzählt, dass er lange nach ihrem Geheimnis geforscht, es aber nie ergründet hatte.
    Hinter ihm kam Filine an. »Nicht schlecht, das Fingerfood«, lachte sie. »Meister Spitznagel beherrscht seine Kunst. Die Leute stopfen sich voll, als hätten sie jahrelang nichts mehr gegessen. Komm, wir sehen mal nach, ob unsere Eltern sich blicken lassen.«
    Ohne abzuwarten, lief sie an die hohe Eingangstür und sah hinaus. Zögernd ging Rufus ihr nach. In diesem Moment trat auch No an seine Seite, der sich einen großen Teller mit Tapas geholt hatte.
    Vor den drei Lehrlingen lagen die breiten Stufen des alten Bankhauses, und dahinter erstreckte sich ein großer Platz mit einer kreisförmigen Rasenfläche und einem ovalen Brunnenbecken in der Mitte, in dem ein goldener Bär auf einer grünspanüberwucherten Kugel tanzte.
    Rund um den Platz parkten Autos.
    Beim Anblick des Rasens in der Herbstsonne wurde Rufus klar, dass er die Akademie seit seiner Ankunft nicht ein einziges Mal verlassen hatte. Er war unter der Sonne Ägyptens gewesen und dort sogar etwas braun geworden, er hatte antiken Sport getrieben und viele Stunden in der Bibliothek verbracht, er war weiter in der Welt unterwegs gewesen als je zuvor – und doch hatte sich das alles irgendwie auch in diesem Haus abgespielt.
    Und das Verrückteste daran war, dass er die Welt da draußen nicht eine Sekunde lang vermisst hatte.
    »Ihr könnt eure Eltern gerne draußen begrüßen. Die, die noch nicht da sind, müssten jetzt bald eintreffen und der offizielle Empfang ist für 15 Uhr angesetzt …« Direktor Saurini war hinter die drei Lehrlinge getreten.
    Rufus merkte, dass ihm plötzlich komisch zumute wurde. Wenn er daran dachte, wie seine Mutter und er die Akademie das erste Mal zusammen betreten hatten, fielen ihm all die Stunden wieder ein, die er zuvor die Schule geschwänzt und alleine im Museum verbracht hatte. Er dachte daran, wie viel besser er sich gefühlt hatte, wenn er draußen auf der Straße umherstromerte. Viel besser als sich allein zu Hause in der entsetzlichen Stille der leeren Wohnung aufzuhalten, die nur vom Summen des Kühlschranks unterbrochen wurde, in dem seine Mutter ihm die belegten Brote bereitgestellt hatte. Tagein, tagaus.
    Und eines Tages hatte Rufus nicht mehr gewusst, was er auf dieser Welt sollte. Er hatte nicht verstanden, warum Eltern sich trennten, warum seine Mutter nach der Trennung Zuflucht in ihrer Arbeit gesucht hatte, warum sie so kalt geworden war. Und warum das außer ihm niemand bemerkte. Für alle anderen war seine Mutter eine gut aussehende, fleißige und selbstständige Frau. Für Rufus aber war sie irgendwann nur noch ein wachsbleiches Gesicht mit rotem Haar gewesen, das mit ihm sprach wie mit einem Fremden.
    Plötzlich schauderte ihm bei dem Gedanken, seinen Fuß vor die Tür der Akademie zu setzen. Im selben Moment zog ihn No an der Schulter.
    »Los, Rufus und Fili! Ich war ja ewig nicht mehr draußen. Ich werde noch zum richtigen Streber hier!«
    Er stellte seinen Teller auf einem Tischchen ab und lief auf die große Freitreppe.
    »Warte, bis die Ferien kommen, da wirst du die Akademie schon noch vermissen!«, rief Filine fröhlich und rannte No nach. Zögerlich folgte ihnen Rufus.
    Sobald er den Fuß durch die hohe Tür gesetzt hatte, fühlte er den Unterschied. Die Gedanken aus der Akademie verblassten ein wenig, der mächtige, unsichtbare Schirm, der das Gebäude überzog und unter dem es

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