Die Stunde des Reglers: Thriller (German Edition)
nichts mehr zu sehen. Nur die Aufforderung weiterzugehen. Diese Mauer, die ihm so viel Kraft gegeben hatte. Für einen Augenblick spürte er sie wieder.
Die Kirche unten im Dorf schlug neunmal stark und einmal leicht. Es war halb zehn. Auf dem Stück Wiese unter dem Küchenfenster sah Tretjak etwas funkeln, das gestern dort noch nicht gefunkelt hatte. Ein Gegenstand lag dort im Gras. Tretjak musste zwei Steintreppen außen am Haus zur Ebene hinabsteigen, um diesen Teil des Grundstücks zu erreichen. Hier unten waren das Fenster seines Schlafzimmers und der Eingang zu einem kleinen Kriechkeller, der allerlei Gerätschaften beherbergte, eine Häckselmaschine zum Beispiel, einen Maronenofen. Hatte sein Vater Kastanien geröstet? Eine komische Vorstellung, fand Tretjak.
Der funkelnde Gegenstand war eine größere Zange aus Chrom, ein sogenannter Seitenschneider, mit dem man starken Draht durchtrennen konnte. Tretjak entdeckte, dass der Draht, der seinen Schlafzimmerfensterladen von innen arretierte, durchgeschnitten worden war, offensichtlich durch die Ritzen der Holzlatten hindurch. Der Laden schwang auf, als er ihn anfasste, und zeigte deutliche Abschürfungen. Außerdem war in den Maschenzaun, der das Grundstück hier hinter der Hecke begrenzte, ein großes Loch geschnitten. So viel stand fest: Hier war letzte Nacht jemand gewesen – während er vom Meer geträumt hatte. Hatte dieser Jemand ihm dabei zugesehen? Warum hatte er die Zange liegen gelassen? War er gestört worden?
Es gab hier oben viele Tiere, Rehe, Hirsche, Dachse, Füchse, Schlangen. Am frechsten – und wahrscheinlich am gefährlichsten – waren die Wildschweine. Nachts gehörte das Grundstück ihnen, das sah man jeden Morgen an den Spuren, die bis unter die Veranda führten. Hatte ein Wildschwein den nächtlichen Besucher vertrieben? Oder hatte er nur festgestellt, dass hier nichts zu holen war, und aus Frust auch gleich seine Zange liegen gelassen? Tretjak überlegte, ob er die Polizei verständigen sollte. Doch dann sah er sich im Nachbarort Luino im Polizeirevier stehen und später einen Beamten den Berg hinaufschnaufen … Noch nie in seinem Leben hatte sich Tretjak von der Polizei Hilfe versprochen. Er würde lieber heute Nacht etwas weniger aufs Meer hinausschauen und stattdessen das Fenster im Auge behalten.
Tretjak kam gerade aus der Dusche, als sein Handy brummte. Die SMS stammte von Luigi, dem Wirt der Pizzeria unten am See. Luigi war nicht immer Wirt gewesen, und inwieweit er heute noch etwas anderes war, wusste Tretjak nicht. Luigi hatte immer schon ein Doppelleben geführt. Luigi war ein Mann für alle Fälle. Er hatte für die Polizei gearbeitet, für andere staatliche Behörden. Für die Mafia und für ganz andere auch. Man wusste in solchen Dingen oft nicht, wer wer war. Tretjak hatte Luigi mal einen Gefallen getan. Und Luigi hatte sich revanchiert. Tretjak mochte Luigi, und er war sich ziemlich sicher, das galt auch umgekehrt.
Luigi schrieb: Komm mal vorbei. Könnte dringend sein .
Dringend? Tretjak schrieb: Könnte gleich kommen. Okay?
Luigi antwortete: Okay.
Es war kurz vor elf Uhr, als Tretjak das Ristorante »Pescatore« betrat. Eine Kellnerin deckte auf der Terrasse mit weißer Tischwäsche ein. Luigi war mit dem Pizzaofen beschäftigt. Es sah so aus, als würde er ihn allmählich fürs Mittagsgeschäft auf Touren bringen.
Luigi war ein wortkarger Mann. Es war ihm vielleicht einfach zu anstrengend, dauernd auf Worte achten zu müssen. Da sagte er lieber gar nichts. Und inzwischen hatte er es gewissermaßen verlernt, das Reden. Tretjak begrüßte er mit einem Nicken, verschwand kurz und kam wieder mit einem Kuvert und einer englischen Zeitung.
»Das kam heute mit einem Kurier. Ohne Schreiben«, sagte Luigi.
Die Zeitung war aufgeschlagen, die mit Rotstift markierte Überschrift lautete: Mister Big ist tot. Es dauerte ein paar Augenblicke, bis Tretjak den wirklichen Namen las. Der Mann, der »einem tragischen Unglücksfall zum Opfer gefallen war«, wie geschrieben stand, hieß wie er selbst: Gabriel Tretjak. Er schaute sich das Foto des Toten an und sah sofort wieder den Mann vor sich, diesen riesigen Kerl, der ihm damals in einer Anwaltskanzlei gegenübergesessen hatte. Wie viele Jahre war das her?
Luigi sagte nichts weiter. Er stellte keine Fragen. Auch nicht die aus seiner Sicht entscheidende Frage, warum ausgerechnet ihm dieser Artikel geschickt worden war. Wer wusste denn überhaupt, dass sie sich kannten, er
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