Die Stunde des Reglers: Thriller (German Edition)
Nachmittag. Sie fand das Tempo erstaunlich, das der Mann anschlug. Eben hatte er noch gezögert, den Auftrag anzunehmen, jetzt tischte er schon erste Recherche-Ergebnisse auf: ein Who is Who der Gegner des Projektes »Casimir«, detailliert mit Namen, Adressen, knappen Kommentaren und Einordnungen. Vieles war nicht neu für sie, aber alles auf einen Blick zu sehen, vollständig und sauber gegliedert – das war schon ein Dossier von besonderer Qualität. Tretjak unterschied die Gegner in vier Gruppen. Erstens die Experten: Das waren Wissenschaftler und Juristen, die rechtlich vorgingen bei Verwaltungsgerichten, Verfassungsgerichten und sogar beim Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte. Zweitens die Verrückten: Darunter fasste Tretjak eine bunte Mischung kleiner Gruppierungen zusammen, die einen eher spirituell, die anderen eher makrobiotisch, wieder andere verschwörerisch. Die einen vermuteten hinter dem physikalischen Begriff der »Negativen Energie« das Böse, die anderen befürchteten, dass die schnellen Teilchen Nahrungsmittel verändern könnten, und natürlich steckte hinter allem ganz oft irgendein Geheimdienst … Die dritte Gruppe auf Tretjaks Liste waren Politiker. Er hatte genau analysiert, wann welche Kommunalwahlen in Frankreich und der Schweiz anstanden und welche Politiker sich was genau von einer Antihaltung versprachen. Der vierte Punkt seiner Gliederung trug die Überschrift »Joker«. Nach Tretjaks Meinung die wichtigste Gruppe – hier, so schrieb er, würde man schließlich fündig werden. Hier gab es erst ein Ergebnis, allerdings eines, das Sophia Welterlin den Tag verdarb. Tretjak schrieb von einem geheimen Hackerclub namens »White Horse«, der sich einen Spaß daraus machte, in große, gutgeschützte Systeme einzudringen und sie so zu manipulieren, dass sie Fehler machten. Vor allem wissenschaftliche Einrichtungen waren das Ziel dieser Jungs. Er glaube zwar nicht, dass dieser Club der Absender der Drohungen sei, schrieb Tretjak. »Aber wer weiß. Ich muss Ihnen jedenfalls gleich die Mitteilung machen, dass eines der Gründungsmitglieder von ›White Horse‹ bei Ihnen arbeitet«, schrieb Tretjak. »Sie sollten ihn sich mal genau ansehen. Aber sagen Sie ihm nichts, den Wissensvorsprung können wir vielleicht brauchen. Sein Name ist Kanu-Ide.« Sophia Welterlin ergänzte in Gedanken den Vornamen: Gilbert.
Sie packte das Manuskript des Journalisten in ihre Tasche, sperrte ihr Büro ab und ging den Gang entlang zum Ausgang. Die alte Digitaluhr an der Wand zeigte 18 Uhr 26. Die Tür zu Gilberts Büro war noch offen. Als sie daran vorbeikam, hörte sie ihn rufen: »Bonsoir, Sophia.«
Mittwoch, 11. Oktober
(t 0 minus 51)
Nein, es gab bei der Polizei keine Statistik, in der europaweit Unfallopfer registriert wurden, keine in München, keine in Brüssel, nirgends. Es existierte keine Statistik, die festhielt, dass am 4. Oktober dieses Jahres zwei Männer tot aufgefunden worden waren, die beide den Namen Gabriel Tretjak trugen. Die Leiche des einen verkohlt in einer kleinen Maschine am Münchner Flughafen, die Leiche des anderen zerstückelt auf einer Wiese im südenglischen Penzance. Es fiel zunächst auch niemandem auf, dass die beiden nahezu identische Geburtsdaten hatten, geboren im August. Am 13. August der tote Tretjak in München, am 15. August der tote Tretjak in Penzance.
Hauptkommissar Rainer Gritz hatte an diesem Morgen einen Fall abgeschlossen, eine einfache Sache, die Ermittlungen waren nach drei Tagen beendet gewesen. Ein Mann hatte seine Ehefrau erschossen, er selbst hatte die Polizei verständigt. Ein Unfall sei es gewesen, sie hätten gestritten und miteinander gerangelt, dabei sei der Revolver losgegangen, zweimal. Doch bei der Untersuchung stellte sich heraus, dass die Schüsse nicht direkt hintereinander, sondern im Abstand von 24 Sekunden abgefeuert worden waren. Damit war die Unfallthese widerlegt. Der Mann gestand gleich im ersten Verhör. Im Protokoll wurde als Motiv nur ein Satz von ihm festgehalten: »Wir führten keine gute Ehe.«
Für genau drei Stunden dachte Gritz, er habe jetzt endlich mal Zeit, sich um ein paar andere Dinge zu kümmern. Es sah ja nun so aus, als würde er doch ein bisschen länger dieses Kommissariat leiten. Er hatte sich Gedanken gemacht, wie man intern ein paar Abläufe verändern könnte. Als Erstes würde er darüber mit seiner Sekretärin sprechen, der netten Frau Gebauer, die sich jedes Jahr die letzte Septemberwoche und
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