Die Stunde des Reglers: Thriller (German Edition)
Eigentlich ist das Ganze eine Rennstrecke, eine 27 Kilometer lange kreisförmige Rennstrecke. Sie verläuft unterirdisch, und es sind keine Autos, die hier ihre Runden drehen, sondern atomare Teilchen , so begann der Text, das jedenfalls war schon mal nicht falsch.
Sie war mit dem Journalisten im Tunnel herumgelaufen, hatte ihm viele der 1232 Magneten gezeigt, tonnenschwere Monster, die die Teilchen beschleunigten. Sie hatte davon gesprochen, dass hier manchmal Bedingungen erzeugt wurden wie bei der Entstehung des Weltalls. Sie hatte ihm das beeindruckende Kontrollzentrum gezeigt, die Wände ein Mosaik aus Farbbildschirmen. Sie hatte ihm den Casimir-Effekt erklärt, bei dem aus dem Nichts, aus dem leeren Raum heraus eine Kraft wirkte, die bei der Erzeugung eines Wurmloches mithelfen könnte. Akribisch hatte er alles mitgeschrieben, und wenn sie etwas aufgemalt hatte, hatte er sich das Blatt Papier geben lassen. Und was, bitte, war ein Wurmloch? Man war vom Hundertsten ins Tausendste gekommen, und am Ende hatte sie den Mann mit dem Eindruck nach Hause geschickt, dass sie ihm zu viel zugemutet hatte. Ein Wurmloch war ein besonderer Weg in der Raumzeit, eine Abkürzung. Durch ein Wurmloch konnte man theoretisch in die Vergangenheit gelangen, so einfach war das. Aber ihr graute davor, nun die Version dieses Mannes zu lesen, der normalerweise von Parteitagen berichtete oder von Reisen in Flüchtlingslager.
»Warum tun Sie sich das an?«, hatte Professor Zender sie gefragt, nachdem er ihr mit dem Reporter begegnet war. »Die schreiben doch sowieso immer nur die Geschichten, die sie sich vorher schon zurechtgelegt haben.«
Sophia Welterlin fand, man musste der Welt erklären, was man hier vorhatte. Auch wenn es mühsam war. Sie beschloss, den Artikel heute Abend mit nach Hause zu nehmen und in aller Ruhe durchzuarbeiten. Der Titel stammte ja eigentlich von ihr. »Wir alle stehen im Feuer der Zeit«, hatte sie auf eine seiner tausend Fragen geantwortet. »Sie auch. Und es wird nur Asche von Ihnen übrig bleiben. Die Zeit verbrennt alles.«
Ihr Büro befand sich in einem Flachbau aus den sechziger Jahren. Eine Art Pavillon, der früher keine wissenschaftliche Funktion gehabt, sondern die Bauleitung beherbergt hatte, die Architekten und Ingenieure, die auf dem großen Gelände des CERN die immer neuen und immer anspruchsvolleren Umbauten steuerten. Für die gab es heute ein anderes Gebäude. Schon mehrmals hatte der Pavillon abgerissen werden sollen. Jetzt beherbergte er das Projekt »Casimir« mit alles in allem 21 Wissenschaftlern. Sophia Welterlins Arbeitszimmer war ein quadratischer Raum mit einer Glasfront gegenüber der Tür. Die Glasfront zeigte zum Garten und hatte eine Schiebetür, durch die man auf eine kleine Terrasse treten konnte. Die Einrichtung von Welterlins Zimmer bestand aus einem sehr großen Schreibtisch, drei Stühlen und sechs Billyregalen von Ikea – für die Bücher, die Fachzeitschriften, die Ordner, die sie so brauchte. Sie war zufrieden mit dem Pavillon, er lag inmitten einer Gruppe gewaltiger Ahornbäume. Auf Fotos aus den fünfziger Jahren konnte man sie schon erkennen, diese Bäume, damals kindkleine Setzlinge auf freiem Gelände, verloren wirkend, angebunden an Pfähle. Das Feuer der Zeit.
Es war ein warmer Tag, die Sonne schien, und dennoch hatte die Luft heute Morgen schon wunderbar nach Herbst gerochen. Das sollte Sophia Welterlin spätabends auch in ihrem Tagebuch vermerken. Vor ein paar Wochen hatte sie damit angefangen. Sie hatte einen teuren Füller geschenkt bekommen und sich aus einem Impuls heraus ein in Leder gebundenes Buch gekauft. Sie war noch sehr eifrig beim Verfassen der Einträge – und ausführlich. So sollte sie auch die kleine Episode aufschreiben, als der Hausmeister mit zwei weiteren Männern in ihrem Büro auftauchte, um von dort ins Freie zu gelangen. Es war nach dem Mittagessen, sie war grade aus der Kantine im Hauptgebäude zurückgekommen. Die Männer hatten lange Stangen und groß, eingerollte Netze dabei. Sie waren gekommen, um zwei weiße Vögel einzufangen, die sich seit zwei Tagen in den Ahornbäumen aufhielten und die offenbar Seltenheitswert hatten. Zuerst hatten alle gedacht, es handle sich dabei um weiße Tauben, aber das war ein Irrtum, es waren weiße Falken. Sophia Welterlin würde am Abend in ihrem Tagebuch mit Freude vermerken, dass die Männer schließlich mit leeren Netzen abgezogen waren.
Die Mail von Gabriel Tretjak kam am späten
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