Die Stunde des Reglers: Thriller (German Edition)
sie erinnerte, dann sah er meist dieses eine Bild: Sie saß nackt auf dem Bett und trank in großen Zügen Milch aus einer Glasflasche.
Freitag, 13. Oktober
(t 0 minus 49)
Eigentlich war der Kriminalbeamte Rainer Gritz kein Freund von Gewohnheiten. Er fand, sie verwandelten Menschen in einfältige Wesen, dumme Wesen. Aber er war ein Mann, der ganz spezielle Vorlieben hatte und sie auch pflegte. Eine dieser Vorlieben rührte von einem Urlaub her, der ihn mit seiner ersten Freundin an die Ostsee geführt hatte. 18 war er damals gewesen, unterwegs mit einem Interrail-Ticket. In Timmendorfer Strand hatte er ein Gebäck kennengelernt, das er von diesem Tag an über alles liebte. Es war ein Gebäck, das es nur im Norden Deutschlands gab und das den seltsamen Namen Franzbrötchen hatte. Eine buttrige Teigschnecke, die ein wenig an ein Croissant erinnerte, gefüllt mit Zimt und Zucker. Er war nie wieder an die Ostsee gefahren, und die Freundin hatte sein Leben bald wieder verlassen, aber die Sehnsucht, in ein warmes, frisch gebackenes Franzbrötchen zu beißen, blieb. Immer, wenn es ihn nach Norddeutschland verschlug, gönnte er sich dieses Gefühl. Als Rainer Gritz hörte, dass in München eine Bäckerei eröffnet hatte, die erste in der ganzen Stadt, die Franzbrötchen backte, war er zur Stelle. Das war vor zwei Jahren. So war die Gewohnheit entstanden, morgens kurz vor halb neun eine Bäckerei in der Westendstraße zu betreten. Man musste es sich schon sehr schönreden, dass die Franzbrötchen-Bäckerei auf dem Weg von Gritz’ Wohnung ins Polizeipräsidium lag. Aber er tat sich diesen Gefallen jeden Morgen.
Parkplätze gab es natürlich nicht in der Gegend, und auch an diesem etwas nebligen Morgen ließ Gritz den Wagen mit eingeschalteter Warnblinkanlage an einer Straßenecke stehen. Als er auf die Bäckerei zuging, dachte er daran, dass er sich der mühseligen Arbeit würde unterziehen müssen, in internationalen Polizei- und Meldecomputern alle Gabriel Tretjaks dieser Welt aufzuspüren. Und dann freute er sich über das warme Gefühl in seiner Hand. Er wunderte sich allerdings, wie das möglich war, dieses warme Gefühl, obwohl er die Bäckerei noch gar nicht erreicht hatte. Dort vorn war doch erst die Tür, die Glastür, durch die eine Frau herauskam, die ihn mit seltsam aufgerissenen Augen ansah. Und während sein Gehirn diese Tatsache verarbeitete, sah er, dass er seine Hand vor den Bauch hielt und dass das Warme in seiner Hand flüssig und rot war.
Im Polizeibericht stand später, dass die Schüsse auf den Kriminalbeamten Rainer Gritz aus einer Pistole mit Schalldämpfer abgefeuert worden waren. Auch das Ergebnis der Autopsie war festgehalten: Eine der drei Kugeln steckte mitten im Herzen. Rainer Gritz hatte nicht leiden müssen. Er war beinahe sofort tot.
Samstag, 14. Oktober
(t 0 minus 48)
Es durfte nicht wieder anfangen.
Bitte nicht.
Es durfte nicht wieder anfangen.
Er lag neben ihr und schlief. Sein Atem ging gleichmäßig, fast ohne Geräusch. Er hatte sich auf die Seite gedreht, das Gesicht in ihre Richtung, die eine Hand befand sich irgendwo unter seinem Körper, die andere auf ihrer Hüfte. Sie selbst lag auf dem Rücken, blickte an die dunkle Decke. Irgendwo hatte sie gelesen, dass die Stimme eines Menschen das Wichtigste war in der Liebe, wichtiger als Aussehen, Alter, Charme, Geld … Dass es die Stimme war, die einen sexuell erregte und Verliebtheit auslöste. Bei ihr war das anders. Bei ihr waren es immer die Hände eines Mannes gewesen, die sie überreden konnten, mit ihm ins Bett zu gehen. Als sie Gabriel zum ersten Mal begegnet war, war ihr nach zehn Minuten klar gewesen, dass sie mit ihm schlafen würde – wenn er das wollte.
Sie sahen immer noch so jung aus, seine Hände. Und sie fühlten sich noch genauso an wie damals, weich und warm und lebendig. Schon damals hatte sie gedacht, dass seine Hände gar nicht so richtig zu ihm passten, dass sie eigene Wesen waren, die selbständig agierten, besonders beim Sex. Sie arbeiteten präzise und sicher, als wüssten sie mehr als ihr Besitzer, als würden sie ein paar Geheimnisse kennen, von denen er selbst keine Ahnung hatte. Auch heute Nacht hatte sie von der ersten Berührung an gewusst, dass sie sich fallen lassen würde, dass es keine Zweifel geben würde daran, ob es richtig war, was sie taten. Es war, als hätte sich der Verschluss ihres BHs von allein geöffnet, noch bevor er ihn überhaupt berührt hatte, als gehorchten ihre
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