Die Stunde des Reglers: Thriller (German Edition)
Der Flughafen Mailand-Malpensa war 80 Kilometer entfernt und lag im Wirrwarr der immer verstopften Zubringerstraßen der Stadt.
Er hatte mehrmals überlegt, ob er das Haus zusperren und nach München fahren sollte. Sein Wagen stand unten im Dorf. In der neuen Wohnung waren sein Archiv, die Ordner, die Tonbänder, alte Videokassetten, weniger alte CD-ROMs, elektronische Dateien auf Festplatten, seine Kalender mit allen Terminen und Namen. Zwanzig Jahre lang hatte er im Leben anderer herumgefuhrwerkt – das ergab einiges an Material, einiges an Querverbindungen, auf die man zurückgreifen konnte. Vieles davon war inzwischen auf seinem Laptop, aber in München befand sich ein Schatz. Und niemand war in der Lage, ihn zu heben, außer Tretjak selbst. Er hatte nie mit einem Assistenten, einer Sekretärin oder dergleichen gearbeitet. Aus Prinzip nicht. Geheimnisse zu wahren war seine Geschäftsgrundlage gewesen. Doch in München war auch der kleine Schrank im Badezimmer mit den Tavor-Tabletten, bestimmt fünf Packungen, ohne die er zuletzt nicht einmal mehr zwei Stunden überstanden hatte. In München war die psychiatrische Klinik, wo Fiona sich in ein Wesen verwandelt hatte, das mit der Frau, in die er sich verliebt hatte, keinerlei Ähnlichkeit mehr hatte, auch nicht äußerlich. In München war das Restaurant in der Schellingstraße, wo er seine potentiellen Klienten empfangen hatte, nur dort, immer an demselben Tisch. In dieser Stadt waren Tretjaks Erfahrungen, seine Methoden und seine Verhaltensmuster eingegraben wie Spurrillen im Asphalt. Wahrscheinlich brauchte er einfach noch Abstand, und vierhundert Kilometer waren eher zu wenig als zu viel.
Tretjak dachte daran, wie er sich das Rauchen abgewöhnt hatte. Auch damals hatte er Abstand schaffen müssen, zwischen sich und den Zigaretten. Schuld war ein Klient gewesen, ein Mediziner, Chefarzt an der Uniklinik. Er fuhr gleich zwei Wagen der Marke Jaguar, und als plötzlich öffentlich die Frage aufgekommen war, woher das Geld dafür stammte, hatte er einen ordentlichen Skandal um sogenannte Forschungsgelder der Industrie an der Backe gehabt. Tretjak schickte den Mann in einen längeren Urlaub auf die Malediven und regelte die Dinge – mit Hilfe des Klinikdirektors und eines Ressortleiters der größten Regionalzeitung, die beide in seiner Schuld standen. Am Ende war eine Stiftung für Schlaganfallspatienten gegründet, alle Konten waren sauber, die Jaguare verkauft. Als der Mann zurückkam, nahm er in einem geordneten Leben Platz, sein Ansehen unbeschädigt. Er war Gefäßspezialist. »Das Krebsrisiko kennen Sie ja«, hatte er mit Blick auf Tretjaks Zigarette gesagt, »davon rede ich jetzt nicht. Das kann auch gut ausgehen. Aber Gefäßspezialisten wie mich – die können Sie sich jetzt schon in den Terminkalender eintragen, wenn Sie so weiterrauchen.« Seit dem Tag, an dem Tretjak keine Zigarette mehr angerührt hatte, mied er auch ein paar Plätze, die für ihn mit Rauchen verbunden waren, drei Lieblingskneipen zum Beispiel, eine bestimmte Bank im Englischen Garten oder die Terrasse des Café Roma. Eigentlich hatte der Bann nur eine gewisse Zeit gelten sollen. Aber bis heute war er nicht ein einziges Mal an einen dieser Plätze zurückgekehrt.
Die Mauer hinter sich. Anstatt nach München zu fahren, hatte Tretjak zwei Kilo Schreibpapier, vier Rollen Tesafilm und Stifte den Berg hochgetragen und an der einzigen Wand im Wohnzimmer, in die kein Fenster geschnitten war, eine Art Tapete angebracht. Ein Patchwork aus Notizzetteln, Buchstaben, Linien und ausgedruckten Bildern.
Nun stand er vor dieser Wand und klebte die neuen Informationen daran, die er von Sophia Welterlin erhalten hatte. Sie hatte angerufen und die Bilder per Mail geschickt. Fass die Vergangenheit nicht an, Du wirst es nicht überleben. Es war diesmal ein ganzes Paket von Bildern, oder besser: Dokumenten, und so waren sie ihr auch zugeschickt worden – in einer Schachtel, heute Morgen. Sie hatte den Inhalt mit ihrem iPhone abfotografiert. Die Dokumente bezogen sich alle auf ein Ereignis vor zwanzig Jahren, einen Physikkongress in Paris. Die Einladung war dabei, das Programm. Thema des Kongresses: »Das Geheimnis der Dunklen Materie«. Ein Bild der jungen Sophia Welterlin lag auch bei, man sah sie am Rednerpult stehen, mit einer etwas zu großen Brille, wie es damals Mode gewesen war. Eine Hotelrechnung aus der Rue de Bastille auf ihren Namen. Und ein Ausschnitt aus der »Neuen Zürcher
Weitere Kostenlose Bücher