Die Stunde des Reglers: Thriller (German Edition)
Zeitung«. Ein kleiner Bericht über einen Schweizer Physiker, der sich in Zürich durch den Sprung aus dem Fenster im fünften Stock das Leben genommen hatte – kurz nach dem Kongress, bei dem er ursprünglich hätte auftreten sollen. Die gelassene Frau Professor Welterlin war ziemlich aufgelöst gewesen am Telefon. Tretjak hatte versprochen, nach Genf zu kommen, wahrscheinlich schon morgen. Ihr zweites Geheimnis. Am Telefon hatte sie nichts weiter drüber sagen wollen.
Tretjaks bisherige Recherchen hingen auch an der Wand. Noch nichts Besonderes. Schnell und einfach zusammengetragen. Ein paar Telefonate, ein paar Mails. Die Tochter einer früheren Klientin war Aktivistin bei Attac und hatte innerhalb einer Stunde eine gute Übersicht über die Protestlage rund um CERN und das Projekt »Casimir« geliefert. Eine Wiener Anwaltskanzlei, für die Tretjak in zwei Fällen tätig geworden war und die auch für die Europäische Kommission arbeitete, hatte ihm mit Informationen ausgeholfen. Auf den »White Horse«-Club hatte ihn Ehud aufmerksam gemacht, ein israelischer Hacker, der seit Jahren auf Tretjaks Payroll stand.
Tretjak nahm sein Fernglas vom Tisch und visierte durchs Fenster die gegenüberliegende Seeseite an. Er sah einen Mann aus einem Auto aussteigen und einen kleinen Weg zu einer Gaststätte einschlagen. Wenn Tretjak etwas über diesen Mann würde herausfinden wollen, wie schnell würde ihm das gelingen? Die Hypothese der »Six Degrees of Separation« besagte, dass man zu jedem Menschen auf der Welt über höchstens sechs Personen, die sich kannten, eine Verbindung schaffen konnte – zu einem Reisbauern in China ebenso wie zu einer Buchhändlerin in Lima oder zum Papst in Rom. Was den Mann dort drüben betraf, dachte Tretjak, als er das Fernglas absetzte, würde er zuerst Luigi fragen, ob der jemanden kannte, der mit dieser Gaststätte in Verbindung stand. Auf diese Weise wäre man schon auf die andere Seeseite gesprungen und könnte mit der Person dort weitermachen.
Ein Studienfreund Tretjaks in München hatte die Hypothese immer propagiert und erprobt. Tretjak blickte wieder auf die Tapete. So hatten sie das früher auch gemacht, ganz am Anfang. Packpapier an die Wand geklebt und gemalt. Er und sein Studienfreund, der Lichtinger Joseph aus Niederbayern. Die Anfänge des Reglers. Zwei junge Männer und ihre Hybris. Uns gehört die Welt, also lass sie uns verändern. Was heißt schon Wirklichkeit? Die Wirklichkeit kann man manipulieren. Was heißt schon Schicksal? Das Schicksal kann man beeinflussen. Was bedeuten schon Gefühle? Gefühle kann man lenken. Ein Spiel war es damals, ein faszinierendes intellektuelles Spiel. Sich eine Aufgabe stellen. Nachdenken, recherchieren. Eine Tapete malen. Und los: Alles, was man wusste, benutzen. Skrupel ablegen. Kühl bleiben.
Tretjak erinnerte sich daran, wie sie versucht hatten, eine große Vordiplomprüfung in Chemie im letzten Moment absagen zu lassen. Eine ganze Packpapierrolle hatte er besorgt, um das Diagramm aufzumalen, Informationen über Menschen, über Stundenpläne, über Raumbelegungspläne. Chaostheorie anwenden, das war die Leidenschaft der beiden Männer: mit möglichst kleinen Veränderungen in einem System einen großen Effekt zu erzielen. Schließlich hatten sie nur einen einzigen Plan verfolgt und an zwei ausgesuchten Stellen die Information platziert, jemand habe sich vorab die Prüfungsaufgaben besorgt. Wie dann diese Information die vorhergesagten Wege nahm, schließlich das ganze System verunsicherte und dass die Prüfung tatsächlich am Ende abgesagt wurde – das war ihnen eine Flasche Champagner wert, im Marco Polo Club. Fünfzehnter Stock, Blick über die Stadt, ach was, über die ganze Welt.
Im Laufe der Zeit hatten sie sich über ideologische Fragen entfremdet. »Du arbeitest für jeden«, hatte Lichtinger ihm einmal vorgeworfen, »du hast keine Haltung, keine übergreifende Logik.« »Es gibt keine übergreifende Logik«, hatte Tretjak geantwortet, »jedes Leben hat seine eigene Logik. Wenn ich sie verstehen kann und sie mich überzeugt, dann hab ich kein Problem.«
Heute war Lichtinger Pfarrer in einer kleinen Gemeinde in Niederbayern und nahm alten Bäuerinnen die Beichte ab. Auch eine Logik. Tretjak schrak aus seinen Gedanken hoch. Und er? Stand immer noch vor solchen Tapeten, aber als Beschäftigungstherapie. Armselig. Gar nichts hatten sie verändert. Die Welt da draußen war immer noch dieselbe.
»›Haben Sie gute Freunde,
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