Die Stunde des Reglers: Thriller (German Edition)
Mantour einbog, sah er sofort, dass im ersten Stock der Hausnummer 23 noch Licht brannte. Das war nicht im Plan. Konnte es sein, dass Frau Professor noch wach war? Schlafstörungen? Besuch? Er verlangsamte seine Schritte, näherte sich dem Hauseingang und ging daran vorbei. Nächste Querstraße rechts, noch mal rechts, wieder schneller jetzt. Einmal um den ganzen Block, wieder in die Rue Mantour. Das Licht brannte noch immer. Sollte er warten? Noch einmal um den Block laufen? Er hatte nicht alle Zeit der Welt. Irgendwann würde es hell werden. Und bald würde sich der Zustand des Geschenks drastisch verändern. Ein Taxi bog jetzt vor ihm in die Straße ein und kam ihm entgegen. Das Schild auf dem Dachbügel leuchtete und signalisierte, dass der Wagen frei war. Kurz bevor das Taxi ihn erreicht hatte, drosselte der Fahrer das Tempo und blickte ihn fragend durch die Windschutzscheibe an. Dann beschleunigte er wieder.
Das Fenster, in dem das Licht brannte, gehörte zur Küche, das wusste der Mann mit dem Rucksack aus dem Grundriss der Wohnung. So ein Licht konnte man schon mal vergessen haben, wenn man zu Bett ging. Er blieb kurz unter dem Fenster stehen. Keine Geräusche, kein Gelächter, keine Stimmen. Er zog die weißlichen Gummihandschuhe an und griff nach dem Schlüsselbund in seiner Manteltasche, nachgemachte Schlüssel, allesamt. Ruhig und wie selbstverständlich ging er auf die Eingangstür des Hauses zu. Obwohl es eine schwere, alte Tür war, gab sie kein Geräusch von sich, als sie aufging. Oben an der Wohnungstür ein Sicherheitsschloss. Der dritte Schlüssel passte. Er schlüpfte in den Gang. Es roch, wie Altbauwohnungen riechen. Die winzige Taschenlampe mit dem roten Lichtkegel, die er dabeihatte, brauchte er nicht, weil der Schein der Lampe aus der Küche in den Gang fiel. Er orientierte sich. Holzfußboden. Gefährlich wegen möglicher Geräusche. Umschalten auf Zeitlupe. Jede Bewegung höchstens ein Fünftel der üblichen Geschwindigkeit. Die dritte Tür rechts führte zum Schlafzimmer. Sie stand einen Spalt offen. Er blieb davor stehen und lauschte. Hörte sein eigenes Herz – und gleichmäßige Atemzüge aus dem Zimmer. Sehr langsam nahm er den Rucksack von der Schulter, sehr langsam holte er die kleine Wasserflasche aus der Seitentasche, und sehr langsam öffnete er dann den großen Reißverschluss.
Selbst in Zeitlupe hatte er nur etwa zehn Minuten benötigt, bis er wieder unten in der verlassenen Rue Mantour stand. Ehe er sich auf den Weg machte, blickte er noch einmal nach oben zu dem Fenster im ersten Stock. Es starrte jetzt genauso schwarz und unergründlich auf die Straße wie alle anderen. Das hatte er sich erlaubt, bevor er die Wohnung der Frau Professor verlassen hatte. Er hatte das Licht in der Küche gelöscht. Als er die nächste Straßenecke erreicht hatte und außer Sichtweite der Wohnung war, blieb er stehen, zog die Gummihandschuhe aus und verstaute sie im leeren Rucksack. Er nahm sein Handy aus der Manteltasche und tippte eine SMS. Er setzte eine ganze Reihe von Namen als Empfänger ein. Die Nachricht würde gleich beachtliche Entfernungen zurücklegen, dachte er. Aber das spielte keine Rolle. Eine SMS bewegte sich mit Lichtgeschwindigkeit. Der Mann war kein Physiker, aber als Arzt wusste man das auch. Der Inhalt seiner Nachricht war kurz und unverfänglich, bestand nur aus einem einzigen Satz: Sophia hat einen neuen Freund.
Samstag, 14. Oktober
(t 0 minus 48)
Sophia Welterlin war sechs Jahre alt, als ihr Vater einen Hund mit nach Hause brachte. Es war ein Foxterrier, drei Monate alt, mit schwarzen Knopfaugen und einem dreifarbigen Ohr, schwarz, braun, weiß. Sein Name war Robert. Am Anfang nannte ihn die Familie deshalb Robbie. Aber weil sich herausstellte, dass der Terrier gern klassische Musik hörte und Sophias Vater ein großer Schubert-Fan war, bürgerte sich schnell ein anderer Name ein: Aus Robert wurde Schubert. Und Schubert wurde zu Sophias wichtigstem Begleiter in ihrem Kinderleben. Eines Nachmittags im Mai, gegen zwei Uhr, kurz nach dem Mittagessen, läutete am Gartentor ein Mann in einem blauen Arbeitskittel. Niemals mehr sollte sie diesen Moment vergessen. Der Flieder vorm Haus blühte und duftete, die Sonne stand noch links vom Matterhorn. Hinter dem Mann, auf der Straße, parkte sein Wagen, ein Elektrowagen der städtischen Müllabfuhr. In Zermatt gab es keine Autos. Sophia lief ihm auf dem Kiesweg entgegen und fragte: »Ja, bitte?« Der Mann sagte: »Habts
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