Die Stunde des Reglers: Thriller (German Edition)
Zifferblatt der Uhr hinter ihr war bekritzelt, aber man konnte sehen, was die Zeiger angaben: Nachmittag, zehn nach drei.
Er fragte sich, ob man auch ihm etwas von dem ansah, was in den letzten 24 Stunden in ihm vorgegangen war. Gefühle zulassen, mit Gefühlen leben wie mit dem Wetter, das sollte er lernen. Fand jedenfalls sein Therapeut.
Heute Morgen hatte er im Hotel in Luzern vom Mord an Rainer Gritz gelesen, eine kleinere Meldung in der »Neuen Zürcher Zeitung«. Der lange Gritz. Der lange, junge Gritz. Der gerade die Ermittlungen aufgenommen hatte in den Mordfällen, die seinen, Tretjaks Namen trugen … Im Bett hatte er die Meldung gelesen. Carola hatte ihm die Zeitung gegeben, die vor der Hotelzimmertür gelegen hatte. Dann war sie gegangen, um ihren Teeladen zu öffnen. Ihr Geruch hatte noch in den Kissen und Laken gehangen, der Geruch ihrer Haut, ihrer Lust, und mit diesem Geruch die Erinnerung an den einen Sommer vor vielen Jahren.
Er hatte viel erzählt in diesem Bett, wie es sonst nicht seine Art war, fast die ganze Nacht waren sie wach gewesen. Und er hatte eine Flasche Milch beim Roomservice bestellen wollen, aber sie trank keine Milch mehr, seit eine Laktose-Unverträglichkeit festgestellt worden war. Vertrauen … Schon eine Stunde nachdem er gestern in Carolas Laden gestanden war, ihren ersten Blick aufgefangen hatte, ihr überraschtes Lächeln, hatte er ein Hotelzimmer in Luzern gebucht und den Besuch bei Frau Welterlin in Genf auf den nächsten Tag verschoben.
Sophia Welterlins Wohnung in der Rue Mantour erinnerte ihn ein bisschen an seine frühere Münchener Wohnung – der Holzboden, die großen Fenster, die weit herunterreichten und hübsche Sprossen hatten, die hohen Decken … Und der Blick von der Küche in den Hinterhof mit dem riesigen Baum. Hier war es eine Blutbuche, soweit er das beurteilen konnte.
»Wollen Sie uns nicht eine Tasse Kaffee machen?«, sagte Tretjak und deutete auf die große chromfarbene Espressomaschine auf der Arbeitsplatte, die nur einen Buchstaben des Geschmieres abbekommen hatte, ein rotes V . Der Rest des Wortes Vergangenheit verlief auf den weißen Wandkacheln dahinter.
»Natürlich«, sagte Sophia Welterlin und stand auf. Sie griff nach einer Küchenrolle, wischte sich die Tränen aus dem Gesicht und begann mit Tassen und Kaffee zu hantieren.
Wenn Chaostheoretiker die Gesetze des Lebens formulierten, benutzten sie gern den Begriff »System«. Ein »System« konnte alles sein: ein Staat genauso wie eine Familie. Für Chaostheoretiker war eine Firma ein »System«, auch eine Ehe war ein »System«, sogar der einzelne Mensch selbst. Gabriel Tretjak hatte sich viel mit Chaostheorie beschäftigt, da er sie enorm hilfreich fand für das, was er tat. Der Regler griff in Systeme ein, veränderte die Strukturen, Abhängigkeiten, Beziehungen eines, meistens sogar mehrerer Leben. Das wichtigste Gesetz der Chaostheorie lautete seiner Meinung nach so: Es gibt nur einen Ort, an dem ein System überleben kann. Diesen Ort nannten die Wissenschaftler den »Rand des Chaos«. Es war der Ort, an dem sich Innovation und Tradition die Waage hielten. Systeme, die ihre Tradition ganz über Bord warfen, sich zu viel und zu schnell veränderten, mussten genauso untergehen wie solche, die nichts mehr veränderten, in ihrer Tradition verharrten. Tretjak hatte keine Lust auf Kaffee, aber er wollte, dass Sophia Welterlin etwas tat, das sie schon hundertmal getan hatte. Der Rand des Chaos: Rituale geben Halt, stabilisieren, wenn zu viel Veränderung passiert. Rituale sind Tradition.
»Mit Milch?«, fragte sie, ohne sich umzudrehen.
Tretjak musste kurz an vergangene Nacht denken. Carola hatte einen kleinen Leberfleck über dem rechten Auge, direkt über dem Lid, man sah ihn nur, wenn sie blinzelte.
»Ja, gerne«, sagte er und bückte sich nach seiner Aktentasche unter dem Tisch. Er nahm sie auf den Schoß, holte einen Stapel weißes DIN-A4-Papier heraus und seinen Füller der Marke Parker. Beides legte er vor sich auf den Tisch. Als auch der Kaffee vor ihm stand und Sophia Welterlin ihm wieder gegenübersaß, begann er zu sprechen. In gleichmäßigem Tonfall, sachlich in der Wortwahl, immer wieder ihren Namen nennend. »Frau Welterlin, wir werden Folgendes tun …« »Sie müssen verstehen, Frau Welterlin …« »Wir werden das alles regeln, Sie müssen sich keine Sorgen machen, Frau Welterlin …«
Der Regler. Der Profi in seinem Element. Auch ihn stabilisierten Rituale.
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