Die Stunde des Reglers: Thriller (German Edition)
Kurzreisen. Zweitens hatte mit seiner Sitzplatzreservierung etwas nicht geklappt, und er hatte die vollen fünf Stunden im Speisewagen verbringen müssen, wo sich natürlich immer wieder der Kellner vor einem aufbaute. Noch einen Kaffee bitte, dann probier ich mal die Suppe, ein gemischter Salat, ein Wasser, ja, sprudelnd bitte … Als er sich auf den Rolltreppen durch den zugigen Hauptbahnhof vom tiefsten Geschoss langsam nach oben zum Ausgang arbeitete, zweifelte er an dem ganzen Unternehmen, das er vor Monaten begonnen und eigentlich schon wieder ad acta gelegt hatte. Auch der Taxifahrer machte keine gute Miene, als er die Adresse hörte. Die Torstraße lag ziemlich nah am Bahnhof. Aber es goss in Strömen, ein Fußmarsch schied definitiv aus.
Die Adresse war sehr exklusiv. Es gehörte zum Konzept, dass man das von außen kaum wahrnehmen konnte. Treysa hatte sich im Internet informiert: ein sechsstöckiges Haus mit Eigentumswohnungen der Luxusklasse. Auf dem Dach ein Swimmingpool, im Erdgeschoss ein eigener Fitnessbereich.
Im Foyer saß ein Portier, der nicht nur den Eingang, sondern auch mehrere diskret angebrachte Videobildschirme im Blick hatte. Treysa war pünktlich, es war zwölf Uhr mittags.
»Ich bin mit Frau Medine Ügdur verabredet«, sagte er. In solchen Situationen wurde er gern für einen Lieferanten oder den Mann vom Cateringservice gehalten. Er trug keine teure Kleidung, und er war schon in der Schule dünn und unscheinbar gewesen. Aber dieser Portier war gut geschult. Seinem Gesicht und dem professionellen Lächeln war nichts zu entnehmen. »Einen Moment, bitte«, sagte er und griff zu einem Telefonhörer.
Medine Ügdur war eine wunderschöne Frau. Nach Treysas Berechnungen musste sie schon um die sechzig sein. Er fand, dass man durchaus eine gewisse Ähnlichkeit mit Gabriel Tretjak feststellen konnte. Die großen, fast schwarzen Augen, die schmale, aber markante Nase. Wahrscheinlich war ihr Haar unter dem Kopftuch genauso schwarz und dick wie Gabriels. Aber vielleicht bildete er sich das auch ein. Das Kopftuch war das Einzige, was an Medine Ügdurs Glauben oder an ihre türkische Herkunft erinnerte. Sie trug einen dunkelgrauen, sehr elegant geschnittenen Hosenanzug, darunter ein goldfarbenes, kragenloses Top. Das Kopftuch hatte dieselbe Farbe. Kein Schmuck, nur eine schlichte goldene Rolex am Handgelenk. Auch die Einrichtung der großen Wohnung ließ jeden orientalischen Einschlag vermissen. Schlichte, sicher sündhaft teure, olivgrüne Sitzmöbel auf einem dunkelbraunen, mattschimmernden Holzfußboden. An den weißen Wänden hing moderne Kunst. Rechts eine große Stehlampe, die aus einem langen, in den Raum schwingenden Arm aus Chrom bestand. Treysa sah, dass auf dem Glastisch eine Porzellanplatte mit kleinen, hübsch angerichteten Häppchen vorbereitet war und eine Karaffe mit Wasser. Er bemerkte auch zwei etwas abgenutzte Fotoalben, die schon bereitlagen.
»Sie sind mit dem Zug gekommen statt mit dem Flugzeug«, sagte Medine Ügdur, als sie Platz genommen hatten. »Fahren Sie gern Zug?«
»Nein, gar nicht«, antwortete Treysa. »Aber ich muss. Ich habe Flugangst.« Er lächelte. »Doch, ja, das gibt es, dass ein Psychologe Flugangst hat.«
Er musste daran denken, dass er Gabriel Tretjak in einem Zug kennengelernt hatte. Auf einer denkwürdigen Reise im Orientexpress. Von der Frau an Tretjaks Seite hatte man nie wieder etwas gehört. Stefan Treysas Begleitung hingegen war damals schon seine Ehefrau gewesen, mit der er bis heute verheiratet war.
»Erzählen Sie, Herr Treysa«, sagte Medine Ügdur. »Wie geht es Gabriel? Was ist aus ihm geworden? Was ist er für ein Mensch? Was macht er?«
Gute Frage, dachte Treysa. Er hatte seit vielen Tagen nichts von Gabriel Tretjak gehört. Er machte sich inzwischen Sorgen. Aber das gehörte nicht hierher. Hier waren zunächst eher Allgemeinplätze gefragt. Erfolgreicher Geschäftsmann, so etwas in der Art, gesundheitlich fit, Wohnung in München … Gabriel Tretjaks Tante hatte ihren Neffen schließlich seit etwa dreißig Jahren nicht gesehen.
Vor über sechs Monaten hatte Treysa ihr geschrieben, einen richtigen Brief auf Papier. Es war gar nicht so leicht gewesen, sie ausfindig zu machen, und klar: Eigentlich durfte ein Therapeut so etwas nicht tun. Ohne Wissen seines Patienten in dessen Leben zu recherchieren, das entsprach definitiv nicht der Ethik des Berufsverbandes. Und war auch methodisch äußerst fragwürdig. Aber Stefan Treysa hatte sich
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