Die Stunde des Reglers: Thriller (German Edition)
den Morden an seinen Namensvettern auf sich hatte, dass er über diese Personen nichts wusste, dass er das alles auch schon Rainer Gritz mitgeteilt hatte. Das Gespräch drehte sich auch um sein Alibi. Am Freitagmorgen, als Rainer Gritz erschossen worden war, hatte Gabriel Tretjak noch am Lago Maggiore einen Kaffee getrunken, ehe er sich auf den Weg nach Luzern gemacht hatte – im »Pescatore«. Ja, hatte Tretjak erklärt, das konnte dort auch sicher jemand bezeugen, der Wirt zum Beispiel.
Als Tretjak sich an der Rezeption des Beau Rivage seinen Zimmerschlüssel geben ließ, überreichte man ihm noch einen großen wattierten Umschlag. Er öffnete ihn sofort. Er enthielt ein eingeschaltetes iPhone, einen schmalen Laptop, diverse beschriftete Schlüssel und ein abgegriffenes Notiz- und Adressbuch aus Leder. Außerdem einen Zettel mit einer Handynummer und dem knappen Kommentar: Ab jetzt.
Eines musste man dieser Sophia Welterlin lassen: Sie hatte Mut. Mit diesem Umschlag hatte sie sich ihm weit ausgeliefert. Auf ihrem iPhone konnte er die SMS lesen, die er gerade selbst abgeschickt hatte. Tretjak schickte sie noch einmal, jetzt an die neue Nummer.
»Ich brauche den Schlüssel doch noch nicht«, sagte er zu der Frau an der Rezeption. Er nahm den Umschlag unter den Arm, durchquerte das Foyer Richtung Ausgang und ließ sich draußen auf den Rücksitz des ersten wartenden Taxis fallen. »In die Rue Mantour, bitte.«
Er musste das Leben der Sophia Welterlin ohnehin umgraben, also konnte er genauso gut gleich damit anfangen. Er war nicht müde, und das wunderte ihn. Schließlich hatte er vergangene Nacht herzlich wenig geschlafen.
»Kommst du wieder, Gabriel?«, hatte Carola gefragt.
»Willst du, dass ich wiederkomme?«, hatte er entgegnet.
»Ja«, hatte sie gesagt.
Das Taxi überholte einen Genfer Streifenwagen, einen weißen Toyota mit einem auffälligen blauen Pfeil an der Seite. Vor ein paar Stunden hatte er selbst noch in solch einem gesessen. Was steckte hinter diesen Morden? Wer? Von seiner Verbindung zu den Toten mit seinem Namen wussten nur wenige Menschen. Galten die Verbrechen nur diesen Tretjaks? Oder auch ihm? Der lange Gritz, der lange, junge Gritz. War Gabriel Tretjak schuld an seinem Tod? Was sollte er tun?
Über der Stadt dehnte sich ein sternklarer Himmel mit einem hellen Dreiviertelmond im Süden. Es war schon nach ein Uhr, als Tretjak Welterlins Wohnung aufsperrte. Er machte kein Licht, setzte sich im Schimmer des Mondscheins an den Küchentisch. Versuchte mit Buenos Aires zu telefonieren, bekam aber niemanden an den Apparat, weder den Mann, der nun schon verdächtig lange verschwunden war, noch den anderen, der ihn in Tretjaks Auftrag finden sollte. Das war kein gutes Zeichen. Was, zum Teufel, sollte er tun?
Er suchte in seinem Handy nach einer gespeicherten Mobilfunknummer. Er wusste nicht, ob der Anschluss noch existierte, und wenn, dann bekam er um diese Zeit sowieso nur noch die Mailbox. Er formulierte im Geiste schon die Nachricht, die er hinterlassen würde, als sich doch eine Männerstimme meldete.
»Hallo«, sagte die Stimme, und Tretjak versuchte, sich an sie zu erinnern.
»Kommissar Maler?«, fragte er.
»Wer spricht dort?«, fragte die Stimme. Sie klang müde, aber sie war die richtige.
»Hier ist Gabriel Tretjak. Ich … Habe ich Sie geweckt, Herr Maler?«
»Nein. Ich bin wach. Schlafen ist zurzeit nicht meine Stärke«, sagte Maler. Und nach einer kleinen Pause: »Was wollen Sie?«
»Ich muss Sie sprechen, Herr Maler. Es ist wichtig. Es geht um den Tod von Rainer Gritz.«
»Ich bin zurzeit nicht im Dienst«, sagte Maler.
»Ich weiß«, sagte Tretjak. Zurzeit nicht im Dienst … Dieser Kommissar Bendlin hatte es anders formuliert. ›Maler? Der kommt nie wieder.‹ Tretjak hörte am Telefon im Hintergrund eine Frauenstimme, die etwas fragte, das er nicht verstehen konnte. Aber er verstand Malers Antwort. »Ich telefoniere«, sagte er in beruhigendem Tonfall. »Alles ist gut, geh wieder schlafen, bitte.«
»Wann können wir sprechen?«, fragte Tretjak.
»Von mir aus jetzt«, antwortete August Maler.
»Gut«, sagte Gabriel Tretjak. Und beschloss, gleich so sitzen zu bleiben, ohne Licht.
Teil 2
Wirklichkeit
1
Der Besuch
Stefan Treysa entstieg dem ICE, der aus München im Berliner Hauptbahnhof eingefahren war, in denkbar missmutiger Stimmung. Erstens war es gar nicht nach seinem Geschmack: nur für einen einzigen Tag und eine Nacht irgendwo hinzufahren. Er hasste
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