Die Stunde des Reglers: Thriller (German Edition)
gesagt, dass er ja in erster Linie Gabriels Freund sei. Und Freunde durften noch ganz andere Dinge. So hatte er sich auch in dem Brief vorgestellt, als Gabriels Freund und Therapeut. Er hatte Medine Ügdur geschrieben, dass er bei Gabriels Therapie immer wieder an eine Grenze stoße. Dabei gehe es stets um seine Kindheit, die Zeit, in der seine Mutter krebskrank wurde, mit einem inoperablen Gehirntumor dem Tod entgegenging. Die Zeit, in der Gabriels Vater das Weite suchte und schließlich sie, die Tante, anrückte, um ihre Schwester zu pflegen – bis sie starb. Treysa hatte geschrieben, er habe den Eindruck, es sei eine traumatische Zeit für Gabriel gewesen, die ihn jetzt einhole. »Aber er hat diese Zeit und seine Erlebnisse wie in einer eisernen Truhe eingeschlossen«, hatte Treysa am Schluss des Briefes formuliert. »Ich weiß, dass mein Anliegen nicht unproblematisch ist, und ich weiß nicht, welche Gefühle ich mit diesem Brief berühre. Trotzdem: Vielleicht können Sie mir und damit Gabriel dabei helfen, seine Truhe zu öffnen.«
Er hatte den Brief vorsichtshalber auf Englisch verfasst, aber er hatte trotzdem keine Antwort erhalten. Bis vor drei Tagen. Da war Medine Ügdur plötzlich am Telefon gewesen. Sie sprach perfekt deutsch und hatte ihn eingeladen. Jetzt holte sie seinen Brief aus der Innentasche ihres Anzuges und legte ihn auf dem Tisch. »Ich wollte ihn nicht wegwerfen, habe ihn sogar lange mit mir herumgetragen. Dann lag er ewig auf der Kommode hier im Eingang«, sagte sie. »Ich wusste einfach nicht, was ich tun sollte, also tat ich nichts.«
»Und wodurch hat sich das geändert?«
»Was für Geschäfte macht Gabriel?«, war ihre Gegenfrage, und der Psychologe hatte plötzlich das Gefühl, auf der Hut sein zu müssen bei der Antwort. Stellte ihn hier jemand auf die Probe?
»Nicht so einfach zu beschreiben«, sagte er. »Eine Art Wirtschaftsberatung.«
Medine Ügdur beugte sich zum Tisch vor, schlug eines der Fotoalben auf. Obenauf lagen Zeitungsausschnitte. Die Berichte über die Morde vor einem Jahr, die Verhaftung Tretjaks, schließlich der Prozess gegen seine Freundin Fiona Neustadt, die eigentlich Nora Krabbe hieß. Treysa sah, dass Medine Ügdur alles verfolgt hatte. Und nun breitete sie Münchner Zeitungen der vergangenen Woche aus. Der Tod des Kriminalbeamten, der in dem Mord am Flughafen ermittelt hatte, dessen Opfer auch Gabriel Tretjak hieß – der richtige Stoff für den Boulevard. Wieder die alten Bilder von Gabriel, mit neuen Schlagzeilen versehen, reißerisch, in fetten Buchstaben, zum Beispiel in der Abendzeitung: Was hat er mit den Morden zu tun?
Die Frau mit dem goldenen Kopftuch sah Treysa an. »Ich habe immer versucht, mich über ihn zu informieren … Ich bin doch seine Tante«, sagte sie schließlich. Sie nickte zustimmend, als hätte jemand anders das gesagt. Und als sie fortfuhr, war ihre Stimme rauer, sie musste sich räuspern. »Nicht nur für ihn waren die drei Jahre in dieser Wohnung in dem Bozener Hotel schwierig, das dürfen Sie mir glauben. ›Zum blauen Mondschein‹ … was für ein Name.« Sie machte eine kleine Pause. »In den letzten Tagen war Leyla an einen intravenösen Morphiumspender angeschlossen, der ein blaues Licht aussandte, wenn die Flasche leer war. Ein blaues Licht in einem verdunkelten Zimmer.«
In solchen Momenten war sich Stefan Treysa immer unschlüssig, ob es ein Glücksfall war, dass er Psychologe war, oder eine Behinderung. In solchen Momenten schaltete sich ganz automatisch seine Professionalität ein, die mit wenigen Fragen das Gegenüber zum Weiterreden brachte. Und sein Gehirn notierte die Antworten. Als müsste er später, wie nach einer Therapiesitzung, alles aufschreiben.
»Wo war diese Wohnung?«, fragte er.
»Ganz oben unterm Dach. Das letzte Stockwerk musste man zu Fuß gehen. Später haben wir einen Treppenlift installieren lassen, für Leyla. Man hätte dort oben über die halbe Stadt schauen können, aber sie wollte immer alles dunkel haben.«
»War Gabriel viel bei ihr im Zimmer?«
»Wir haben versucht, das zu verhindern. Aber das ging natürlich nicht. Sie hat ihn immer wieder gerufen.«
Medine Ügdur nahm eines der Fotoalben, schlug es auf und zeigte Treysa ein Foto von Gabriel, elf Jahre alt war er da, wie sie sagte. Er hielt ein ziemliches großes Fernrohr mit beiden Händen über dem Kopf und lächelte. »Ich habe ihm zum Geburtstag ein Teleskop geschenkt«, sagte sie. »ich wollte, dass er sich ablenken
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