Die Stunde des Reglers: Thriller (German Edition)
kam eine derartige Eiseskälte … Unheimlich war das.«
Ein merkwürdiger Nachmittag. Jeder konstruiert sich seine Wahrheit, dachte Stefan Treysa. Was wusste Medine Ügdur von Gabriels Vater? Nichts, sagte sie, der sei schon weg gewesen, als sie kam. Sie wisse nur das, was Leyla über ihn gesagt habe, und das sei jede Minute anders gewesen. Mal war Paul Tretjak der Teufel gewesen, mal der einzige Mensch, der Leyla je geliebt hatte.
Und Luca, der Bruder?
»Der Halbbruder«, korrigierte sie, winkte aber gleich ab, als wollte sie sich für die Bemerkung entschuldigen. »Luca hat Leyla wohl von Anfang an nicht akzeptiert. Kann man verstehen, ist ja normal, er wollte keine neue Mutter. Aber Leyla hat ihn gehasst. Jedenfalls die Leyla, die ich vorgefunden habe.«
»Welches Verhältnis hatte Gabriel zu seinem Bruder?«
»Was früher war, kann ich nicht sagen. In der Zeit, von der wir reden, hat Gabriel sich immer bemüht, dasselbe zu empfinden wie seine Mutter, egal, worum es ging, auch was Luca betraf. Sie sind der Psychologe, Sie haben dafür sicher eine Erklärung.«
Als Stefan Treysa sich verabschiedete, sah er sie noch so lange in der Wohnungstür stehen, bis die Lifttüren sich geschlossen hatten. Er hätte gewettet, dass Medine Ügdur noch nie vorher über die Zeit des Sterbens ihrer Schwester gesprochen hatte. Jedenfalls nicht auf diese Weise. Und er fragte sich, wie ihr Alltag aussah, mit ihren vielen Freundinnen und Freunden.
Treysa übernachtete im Hotel Savoy im Westen der Stadt. Es war ihm empfohlen worden, er war kein Berlinkenner. Als er im Zimmer war, schrieb er eine SMS an Tretjak. Gabriel, bitte melde dich, heute noch. Stefan. Das Letzte, was er von ihm gehört hatte, war, dass er die Frau besuchen wollte, die auf seiner Vertrauensliste ganz oben stand.
»Vertraut sie auch dir?«, hatte er ihn gefragt.
»Ich glaube, ja«, hatte Gabriel geantwortet.
»Wie und wo hast du sie kennengelernt?«
»Bei einem Job.«
»Das heißt, du hast sie irgendwie manipuliert, oder? ›Geregelt‹, wie du sagst …«
»Kann sein.«
»Weiß sie das?«
»Nein.«
Jeder konstruierte sich seine Wahrheit. Aber es war nicht seine Aufgabe, Wahrheiten herauszufinden. Oder irgendwem irgendwelche Wahrheiten aufzutischen. Seine Aufgabe bestand darin, Gabriel aus seiner Krise herauszuhelfen, ihm zu ermöglichen, ein tragfähiges Fundament für seine Identität zu erstellen. Das Leben wurde im Alter ja nicht leichter, bei niemandem.
Stefan Treysa ging in die Sauna, dann aß er bei einem Chinesen um die Ecke Ente süßsauer. Unten im Hotel Savoy gab es eine Zigarrenbar. Stefan Treysa tat, was er nur ungefähr fünfmal im Jahr tat: Er rauchte eine Zigarre. Dieses Mal eine Montecristo No. 4. Als er schlafen ging, war es schon nach elf Uhr, eher spät für seine Verhältnisse. Er bat um einen Weckruf um sechs, sein Zug nach München ging kurz nach sieben. Das Bett war groß und angenehm, aber er vermisste den warmen Körper seiner Frau. Das Handy hatte er den ganzen Abend über eingeschaltet gelassen. Aber es war still geblieben. Keine Nachricht von Gabriel Tretjak.
2
Ein Stammtisch
Das Restaurant »Käfer« war eine Institution in München. Es lag in der Prinzregentenstraße im Stadtteil Bogenhausen, nur ein paar Meter vom Friedensengel entfernt, einem der Münchner Wahrzeichen. Ein Denkmal mit einem riesigen goldenen Engel, das an fünfundzwanzig friedliche Jahre nach dem Deutsch-Französischen Krieg 1870/71 erinnern sollte. Das war einer von August Malers Lieblingsplätzen, die Bank am Fuß der Säule, der Blick auf die Isar. Er war lange nicht dort gewesen, dachte er, bevor er den »Käfer« betrat. Wer hier aß, wusste, dass das Essen gut und teuer war. Aber er wusste noch etwas mehr: Hier saß eine Elite der Stadt, hier saßen Leute, die gern zeigten, dass sie es geschafft hatten, dass sie mehr hatten als andere, wichtiger waren als der Rest. Und es gab Gäste, die das Image sehr genau kannten und genossen und doch im Schatten bleiben wollten – und sich gerade deswegen noch wichtiger fühlten. Sie saßen in Nischen, in Nebenzimmern, ganz diskret. Geschäftsleute zum Beispiel, die einem Treffen einen besonderen Glanz verleihen wollten, auch Politiker, sogar die Chefs des Fußballclubs führten ihre exklusiven Neuzugänge oft in dieses Restaurant.
Eine dieser Nischen hatten jeden Mittwochmittag um 12.30 Uhr zwei alte Herrschaften reserviert, eine weißhaarige Frau und ein weißhaariger Mann, immer fein
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