Die Stunde des Reglers: Thriller (German Edition)
angefangen aufzuschreiben, was sie Tretjak hatte sagen wollen, bevor die Polizei kam. Ihren Laptop hatte sie ihm ausgehändigt, deshalb schrieb sie auf einem linierten Schreibblock, den man ihr hier gegeben hatte. Eigene Briefbögen hatte die kleine Pension »Aurora« nicht. Sie schrieb abends, in der Stunde vor dem Essen, saß in ihrem Zimmer, blickte über das Meer. Jeden Abend wanderten diverse Seiten des Blockes zerknüllt in den Papierkorb. In immer neuen Versuchen näherte sie sich der Wahrheit, merkte immer wieder, wie schwer es ihr fiel, Gedanken nicht nur zu formulieren, sondern sie überhaupt zuzulassen. Mit welchen Worten fing man an? Es gab so viel zu erklären. Mal nahm sie für ihr Geständnis den Anlauf über die Welt der Wissenschaft. Dann erklärte sie Tretjak, wie groß die Konkurrenz unter den Forschern war, dass es hinter der noblen Attitüde oft richtige Kämpfe gab, erbittert ausgefochten, mit widerwärtigen Mitteln, sie schrieb, dass man selbst davon erfasst werden konnte, ehe man es sich versah …
Ein anderes Mal versuchte sie es über die Krankheit ihres Professors. Sie schrieb, dass depressive Menschen einem leidtun mussten, weil sie arm dran waren, dass sie aber deshalb noch keine sympathischen Menschen waren, nur weil sie diese Krankheit hatten … Auch dieser Versuch landete im Papierkorb.
Sie hatten einen kleinen Fiat Panda gemietet, ihr Vater und sie. Abends fuhren sie meistens die schmale Teerstraße zum anderen Ende der Bucht, wo ein neues Restaurant mit großer Terrasse stand. Die Straße folgte der sichelförmigen Bucht, man blickte während der kurzen Fahrt direkt auf den Sonnenuntergang. In dem Restaurant bestellten sie Linguine mit Hummer oder gegrillten Fisch, tranken Wein und redeten über ihre Familie, über eine neugeplante Seilbahn in Zermatt oder den amerikanischen Präsidentschaftswahlkampf. Aber natürlich schweiften ihre Gedanken immer wieder ab. Fass die Vergangenheit nicht an … Wer steckte dahinter? Wer wusste so viel über sie, dass er so mit ihr spielen konnte? Dass er nachts in ihre Wohnung spazieren konnte? Wie vielen Menschen hatte sie je von ihrem Hund Schubert erzählt? Von ihrer Tochter, die sie nach der Geburt weggegeben hatte? Und vor allem: Was bezweckte die Person? Das Ende ihres Experimentes am CERN? Wirklich nur das?
Später an den Abenden, in ihrem Zimmer, wo der Schreibblock auf dem Tisch lag und die Müdigkeit nicht kommen wollte, beamte sich Sophia Welterlin 25 Jahre zurück. Die junge Physikerin, gerade fertig mit dem Diplom, Assistentin des großen Professors Sennlaub, ihres Doktorvaters. Die Arbeiten zur Identifizierung der Quarks und ihrer Eigenschaften, Versuche, die Dunkle Materie zu erklären. Sophia Welterlin Tag und Nacht am Rechner, damals noch mit komplizierten Programmiersprachen, vergraben in Fachliteratur, damals noch ohne Internet. Und der große Professor? Immer wieder abgetaucht, verschwunden, tagelang, ohne Erklärung. Zuerst hatte sie gedacht: ein Alkoholproblem. Dann hatte sie gedacht: Kokain, gerade die ganz große Modedroge, kam aus der Werbung in die Wissenschaft. Dann war sie sicher: Rotlicht, Frauen. Sogar an eine tropische Krankheit hatte sie mal geglaubt, er hatte von Reisen nach Afrika erzählt. Oder Aids? Fast ein Jahr hatte es gedauert, bis sie begriffen hatte: Professor Dr. Sennlaub war psychisch krank, er stand unter schweren Medikamenten, musste immer wieder stationär in die Klinik. Der Mann, mit dem sie damals zusammen war, sagte ihr immer: Du darfst dich nicht so ausbeuten lassen, das ist alles deine Arbeit, und am Ende wird er sich damit schmücken …
Am fünften Abend in der Bucht von Baratti schrieb sie den Brief an Gabriel Tretjak in einem Rutsch. Er geriet gar nicht besonders lang, zwei Seiten. Und endete mit der Feststellung: »Ich habe dafür gesorgt, dass Sennlaubs Zustand publik wurde, seine schwere psychische Erkrankung, seine Klinikaufenthalte. Ganz bewusst habe ich das getan, über mehrere Kanäle. Ich habe sogar Worte wie Schizophrenie ins Spiel gebracht, das klang noch schlimmer als Depressionen. Und damals war eine andere Zeit. Sennlaub wurde sofort beurlaubt, kurz vor dem großen Kongress. Zuerst sollte sein Auftritt einfach entfallen, aber dann habe ich dort referiert. Der Start meiner Karriere, ohne Zweifel. Ja, Professor Sennlaub war schon vorher suizidgefährdet. Aber ich bin trotzdem sicher, dass es meine Schuld ist, dass er sich das Leben genommen hat.«
Sophia Welterlin steckte
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