Die Stunde des Reglers: Thriller (German Edition)
Kuchen hatte sie auch gegessen. Sie hatte ein guter Gast sein wollen, nicht auffallen.
»Nein, das sind keine netten Leute, das versichere ich dir. Die zwei sind das Grauen.«
»Ich habe jetzt die ganze nächste Woche freigenommen. Ging problemlos. Jetzt bin ich dein Chauffeur.«
»Danke dir, Inge.« Maler griff nach ihrer Hand. Er sagte ihren Vornamen nicht oft, immer nur, wenn es ihm wichtig war, und dann auch nur, wenn er etwas Freundliches sagen wollte.
»Also, der Plan ist: Wir fahren als Nächstes zu diesem Christian Senne nach Niederbayern. Wie heißt der Ort?«
»Oberhaselbach«, sagte Maler. »Muss ein ganz kleines Nest sein, nur Hausnummern, keine Straßennamen.«
»Was wird das für ein Typ sein, dieser Senne?«
»Gespannt bin ich auf den. Du hättest sehen sollen, wie die beiden heute Mittag zur Salzsäule erstarrt sind, als ich seinen Namen nannte. Frau Gerrach nannte ihn den Teufel schlechthin.«
»Was weißt du über ihn?«
»Praktisch nichts. Er ist der Sohn von einem der Männer, die Auschwitz organisiert haben, Martin Senne hieß er. Christian Senne hasst seinen Vater, hat sogar einen Film über ihn gemacht, eine bittere Abrechnung, ein Dokument voller Hass und Wut, sehr obszön soll es auch sein. Breitmann sagte, Christian Senne habe sich auf ewig versündigt, so dürfe man mit seinem Vater nicht umgehen. Da habe ich ihn doch kurz gefragt, ob nicht Millionen Tote die größere Sünde sind. Darauf hat er nur den Kopf geschüttelt.«
»Hast du irgendeine Vorstellung, was Senne mit dem Tod von Rainer zu tun haben kann?«, fragte Inge.
»Nein, gar keine. Vielleicht wird Tretjak bald mehr sagen. Er hätte eigentlich schon anrufen sollen«, er sah auf die Uhr. »Im Moment bin ich nichts als eine Marionette«, sagte er und lächelte. »Ich tue, was befohlen wird.«
Für einen Augenblick wusste Inge Maler nicht, was sie sagen sollte. Sie entschied sich auch für ein Lächeln. »Bleibst du noch ein bisschen draußen?«
»Ja, noch ein bisschen.«
Sie strich ihm übers Haar und öffnete die Balkontür. »Bis später.«
»Du musst mir was versprechen«, sagte Maler. »Du musst mir in den nächsten Tagen sagen, was real ist und was nicht. Was Wirklichkeit ist und was mein Wahn, ja?«
»Wird gemacht, Herr Kapitän.«
Maler saß noch eine lange Weile auf dem Balkon. Er musste an Gritz denken. Rainer war einer gewesen, der immer da gewesen war. Maler spürte den Schmerz des Verlustes, jetzt spürte er ihn. Rainer war nicht mehr da. Rainer war ein Freund gewesen. Über Freunde denkt man nicht nach, hatte Maler immer gesagt, sie sind einfach da. Aber über tote Freunde denkt man nach, dachte er. Was für ein Grauen. Rainers Tod. Albtraum und Realität.
3
Der Brief
Sie lief wie betäubt durch die Landschaft. Es stimmte nicht, dachte sie, dass der Wind unsichtbar ist. Man musste ihn nur sichtbar machen. Hier hatten die Pinien diese Aufgabe übernommen. Wer vor ihnen stand, dachte nur ein Wort. Und es war nicht das Wort »Baum«, sondern das Wort »Wind«. Jahrzehnte hatte der Wind gebraucht, um seine Form in diese Bäume hineinzudrehen, hineinzumassieren. Deshalb konnte man ihn jetzt sehen.
Im Grunde verhielt es sich bei den Teilchen der Materie so ähnlich, fand Sophia Welterlin. Man musste sie sichtbar machen, und man konnte sie auch sichtbar machen. Früher hatte man sie durch Nebelkammern geschickt und ihre Bahn an einem Kondensstreifen verfolgen können wie bei einem Flugzeug am Himmel. Heute wurden die Bausteine der Welt in großen Datenmengen sichtbar, man konnte sagen, in den Bildern, die große Rechner malten – mit den Farben der Messergebnisse aus den Experimenten.
Betäubt von der Droge Zeit, das war sie. Weil sie hier ihre Kindheit riechen konnte, weil sie sich für Sekunden fühlte wie damals im Urlaub mit ihren Eltern. Aber auch weil sie ihren Vater hier sah, in der gleichen Kulisse, ihren Vater, der so alt geworden war, aber immer noch dieselbe Badehose trug wie vor vierzig Jahren. Wieso alterten Badehosen nicht? Ihr Vater behauptete, dass der rothaarige Brocken von Mann, der in der Küche stand, der kleine Bub von damals sei, der tagelang mit einem Dreirad und ernster Miene im Eingangsbereich der Pension auf und ab gefahren war. Ihr Vater war glücklich. Glücklich, wieder hier zu sein, glücklich, mit seiner Tochter Zeit zu verbringen. Spürte er die Nähe des Todes nicht? Oder hatte er einfach keine Angst davor?
Schon am zweiten Tag in der Bucht von Baratti hatte sie
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