Die Stunde des Reglers: Thriller (German Edition)
Die dritte Generation, wenn Sie so wollen. Sind alle nach und nach verschwunden. Auch die zwei Cousins von Wolfgang und Philipp waren auf einmal weg. Keiner wusste etwas. Und die Alten wollten nicht, dass man nach ihren Kindern fragt. Sie schwiegen. Im Schweigen sind wir alle gut.« Maria von Gerrach lachte, trocken, kurz.
»Was heißt verschwunden? Wie kann man einfach verschwinden?«, fragte Maler.
Maria von Gerrach nahm den letzten Schluck aus ihrer Espressotasse. »Herr Kommissar, wir denken, wir müssen Ihnen die Sache ein wenig ausführlicher erklären. Dürfen wir Ihnen etwas anbieten? Kaffee? Oder wollen Sie etwas essen? Bitte, was Sie wollen. Betrachten Sie sich als unser Gast.«
»Vielen Dank«, sagte Maler, »aber ich möchte jetzt gar nichts.« Er war froh, das Zittern seiner Hände beruhigen zu können, indem er sie unter dem Tisch verschränkte.
»Schauen Sie«, begann Maria von Gerrach im Tonfall einer Lehrerin. »Die Deutschen haben irgendwann nach 1945 beschlossen, dass die Nazis im Grunde nichts mit ihnen zu tun hatten. Die Deutschen seien irgendwie das Opfer einer kleinen Gruppe von brutalen Leuten geworden. So hat man sich das zurechtgelegt: Man sei von ihnen verführt, verraten und missbraucht worden. Von Hitler, von Himmler, von Hess, von Breitmann und auch von meinem Vater, Traugott von Gerrach. Und auch von von Kattenberg. Das waren die Teufel, die die armen Deutschen ins Unglück gestürzt hatten. Ihre Namen wurden zum Inbegriff des Bösen. Und diese Namen tragen wir. Walter und auch ich. Die Namen sind bis heute verpönt, man stellt uns mit ihnen an den Pranger. Es wird nie enden. Das ist unser Schicksal.«
Ein kurzes Geschichtsreferat über ihr Verständnis der deutschen Schuld, dachte Maler.
»Sie wollten etwas erfahren über uns Nazi-Kinder«, sagte Walter Breitmann. »Es ist Schicksal. Mehr gibt es darüber nicht zu sagen.«
»Was haben Sie für Eltern, Herr Kommissar?«, fragte Frau von Gerrach. »Waren Ihre Eltern etwa keine Nazis?«
Maler zögerte. »Nicht so einfach zu sagen bei mir.«
»Auch was Schlimmes dabei?«, fragte Breitmann. »Reden Sie nur. Gegen uns haben Sie eh keine Chance.« Er kicherte.
»Ich wurde adoptiert. Ich kenne meine Eltern nicht. In der Familie meines Pflegevaters waren ein paar Hitlerjungen dabei, mehr wohl nicht.« Maler war die Lust auf dieses Gespräch vergangen, er hatte überhaupt keine Lust mehr. Seine Beine fingen an zu kribbeln. Er wäre so gerne aufgestanden. Aber er konnte nicht gehen, er musste noch nach dem anderen Mann fragen, nach Christian Senne, das war der eigentliche Grund, warum er hier war. Maler hörte sich sagen: »Noch einmal zurück zu Wolfgang von Kattenberg. Was wissen Sie über sein Verschwinden?«
»Ich war noch nicht fertig.« Maria von Gerrach klang nicht mehr gereizt. Eher genüsslich, nach dem Motto: Jetzt hören Sie mir erst mal zu. »Kinder wie wir haben drei Möglichkeiten, mit dieser Geschichte umzugehen. Die erste ist die von der Gesellschaft akzeptierte und erwartete: Man wirft sich in den Staub, man entschuldigt sich für die bösen Eltern, man verzweifelt am Schicksal. Wer sich so verhält, verhält sich politisch korrekt.«
»Ich habe noch nie verstanden, für was ich mich entschuldigen soll. Dass mich meine Mutter geboren hat?«, sagte Walter Breitmann.
»Zweite Möglichkeit«, fuhr Maria von Gerrach fort, »man verteidigt den Vater. Er sei anders gewesen, als alle sagen. Man sagt: Ich habe ihn anders erlebt, zu mir war er anders. Großer Aufschrei der Gesellschaft. Wie kann man nur ein Monster achten, ja sogar lieben? Die Folge: Man wird geächtet, ausgeschlossen, verachtet.«
Breitmann sagte: »Herr Kommissar –«
Aber Frau von Gerrach redete bereits weiter: »Die dritte Möglichkeit haben die vier Kattenbergs gewählt. Sie sind verschwunden, haben vermutlich anderswo neu angefangen, mit einer neuen Identität. Das kennt jeder von uns Nazi-Kindern, die Sehnsucht, jemand anderes zu sein. Die Frage ist nur, ob es wirklich eine Lösung ist. Ich glaube, nein. Aber das fragen Sie besser die Kattenbergs.«
»Wolfgang von Kattenberg kann ich leider nicht mehr fragen. Ich verstehe immer noch nicht, wie ein solches Verschwinden funktioniert«, sagte Maler.
»Aber Herr Kommissar«, rief Walter Breitmann, »jetzt tun Sie aber arg naiv! Ihr von der Polizei macht das doch auch. Heißt es nicht Zeugenschutzprogramm? Man siedelt jemanden um in ein anderes Leben. Und die Kattenbergs haben das selbst übernommen.
Weitere Kostenlose Bücher