Die Stunde des Reglers: Thriller (German Edition)
überall die Angst. Er fragte sich, ob Frau Senne immer schon so dick gewesen war. Er hätte gewettet, dass sie früher schlanker war und attraktiv. Annabel Senne fragte ihn, ob er eine Tasse Kaffee trinken mochte. Ohne Kaffee sei für sie ein Morgen kein richtiger Morgen, sagte sie. Maler sah das Zittern unter der Freundlichkeit. Er sah sie vor sich, diese Frau und ihre Weinkrämpfe, die sie schon seit längerem begleiteten.
»Ist Ihr Mann da?«, fragte Maler.
»Nein.« Annabel Senne stand am Herd, mit dem Rücken zu ihm. Sie drehte sich nicht um. »Mein Mann ist tot. Sie müssen entschuldigen, dass ich das erst jetzt sag. Ich möcht nicht Ihre Zeit verschwenden.«
»Tot? Um Gottes willen. Ich muss mich entschuldigen. Ich hatte keine Ahnung.«
»Mein Mann ist vor drei Wochen gestorben. Er wollte, dass es keiner erfährt. Ich war alleine auf seiner Beerdigung. Ich und ein Pfarrer. Auch das wollte er. Wissen S’, mein Mann hat die Menschen nicht gemocht. Er hat sie gehasst, die Menschen.«
»Darf ich fragen, woran er gestorben ist?«
»Leukämie. Blutkrebs. Eine Krankheit, die zu meinem Mann passte. Er hat selbst mal g’sagt: ›Irgendwann sterbe ich an meinem eigenen Blut.‹«
Maler schwieg.
»Sagen Sie mir trotzdem, was Sie von ihm wollten?«
Maler erzählte ihr von dem Verschwinden der vier von Kattenbergs, dass zwei von ihnen tot waren, der eine am Münchner Flughafen gefunden in seinem ausgebrannten Flugzeug. Der andere von einem Mähdrescher überfahren in England. Er erzählte ihr auch von seiner Begegnung mit den Nachfahren Breitmanns und von Gerrachs – und wie sehr sie Christian Senne verachtet hatten. »Ich wollte von Ihrem Mann wissen, was er von den von Kattenbergs weiß und ob er sich vielleicht vorstellen kann, wer ihnen nach dem Leben trachtet.«
»Da kann ich Ihnen leider nicht helfen«, sagte Annabel Senne. »Mir ist das alles in den letzten Jahren zu viel geworden. Ich habe ihm g’sagt, er soll mich mit seiner Vergangenheit in Ruh lassen. Wissen Sie, als ich meinen Mann vor dreißig Jahren geheiratet hab, war klar, wie sehr ihn seine Familiengeschichte bedrückt. Vielleicht hab ich mich sogar deshalb in ihn verliebt, seine Wut, seine Art, mit seinem Schicksal umzugehen. Sein Vater war ja nicht irgendein Nazi, der war ein Schlächter, ein Folterer, ein verlogenes Schwein, der war ja alles zusammen. Aber die Wut wurde mit den Jahren immer schlimmer, sie hat angefangen, meinen Mann zu zerstören, und mich auch. Als ich ihm gesagt hab, ich mag es nicht mehr hören, als ich es ihm jeden Tag gesagt hab, hat er mich eines Tages angeschaut und gesagt: ›Na gut.‹ Von da an hat er davon geschwiegen. Und wir zusammen haben auch geschwiegen.«
»Haben Sie Kinder?«, fragte Maler.
»Nein. Er wollte keine. Er hat gesagt, mit seinem Namen muss Schluss sein. Er wollte sein Geschlecht ausmerzen, solche Sätze hat er gesagt. Ich hab es akzeptiert. Hat keinen Sinn, darüber nachzudenken, jetzt schon gar nicht mehr.«
Sie sagte, sie hätten in den letzten Jahren ein sehr einsames Leben geführt, nach und nach hätten sie alle Freunde und Weggefährten verloren. »Irgendwann kam immer der Punkt, wo er nach den Konsequenzen fragte: Was machen wir alle mit unserer Schuld? Es kann doch nicht sein, dass wir alle unsere Familiengeschichten leugnen? Herr Kommissar, ich sag’s Ihnen, diese Fragen hält keiner aus.«
»Der Tod eines Krebskranken ist auch für Angehörige schrecklich«, sagte Maler. »Sie haben eine schlimme Zeit hinter sich.«
»Nein«, sagte sie. Und ihr Gesicht fror ein. »Nein, gar nicht. Mein Mann ging vier Tage vor seinem Tod in die Klinik. Er sagte, er will sich mal durchchecken lassen, er fühlt sich nicht so wohl, hat er g’sagt. Ich hab ihm am Abend ein paar Sachen in die Klinik gebracht. Ich bin ins Stationszimmer und hab den Arzt gefragt, wie lange mein Mann wohl bleiben müsse. Da hat der mich ganz mitleidig angeschaut. ›Frau Senne‹, hat er gesagt, ›Sie müssen jetzt sehr stark sein. Ihr Mann ist zum Sterben hier.‹ ›Zum Sterben‹, hat er gesagt, Herr Kommissar.« Tränen schossen ihr in die Augen.
»Und Sie wussten gar nichts? Sie wussten nichts von der Krankheit Ihres Mannes?«
»Gar nichts wusste ich. Mein Mann hatte mir nichts gesagt, jahrelang. Er sagte, er hat mich schonen wollen. Und dann ging es sehr schnell. Vier Tage später war er tot.«
Auf dem Küchentisch lagen ein paar Zettel, vollgeschrieben mit Nummern und Zahlen. Hunderte von Nummern. Maler
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