Die Stunde des Reglers: Thriller (German Edition)
davon weiß. Wir sprachen viel darüber. Er wollte es so, er wollte niemanden sehen. Für die Frau war das schrecklich, ich weiß das. Das erleben wir übrigens hier im Krankenhaus nicht selten.« Er machte eine Pause. »Wir Deutschen sind nicht gut im Sterben, gestatten Sie mir diesen Ausdruck. Wir sind nicht gut im Sterben, weil wir nicht gut im Leben sind. Ich bin viel in Afrika, in den ärmsten Gegenden. Ich arbeite als Arzt dort, die Hälfte des Jahres. Die Sterbekultur ist völlig anders dort, viel, viel menschlicher. Ich könnte lange darüber reden, aber die Zeit drängt.«
»Wir wollen Sie nicht aufhalten«, sagte Maler. »Noch eine Frage, Herr Doktor: Kannten Sie die Familiengeschichte von Christian Senne?«
»Sie meinen die Sache mit dem Vater? Ja, das wusste ich. Hat er erzählt.«
»Hat er Sie auch nach Ihrer Familiengeschichte gefragt?«
»Nein, dabei wäre bei mir familiengeschichtlich durchaus etwas los. Mein japanischer Großvater hat auf Seiten der Deutschen gekämpft. In der Familie meiner deutschen Mutter gab es auch den einen oder anderen Nazi. Nein, da hat er nie danach gefragt. Herr Senne war am Ende wahrscheinlich mehr mit sich selbst beschäftigt.« Matthiessen gab Maler noch seine Visitenkarte. »Hier stehen meine Nummern. Ich bin ab nächster Woche im Kongo, aber wenn Sie noch eine Frage haben, bin ich immer zu erreichen.« Dann verabschiedete er sich.
Später fragte sich Maler, ob ihm damals schon etwas hätte auffallen müssen bei dem Gespräch mit Lars Matthiessen.
Auf der Rückfahrt nach München wurde kaum gesprochen. Auch das Radio blieb ausgeschaltet, keine Musik, keine Nachrichten. Nur einmal fragte Inge: »Hast du irgendeine Idee, warum dieser Tretjak den vier Kattenbergs seinen eigenen Namen gegeben hat? Das ist doch völlig krank!«
»Keine Ahnung«, sagte Maler. »Gabriel Tretjak ist einer, der mit dem Leben spielt, mit den Menschen. Vermutlich hat er auch schon wieder angefangen, mit mir zu spielen.« Warum meldete er sich nicht? Und antwortete auf keine Nachricht?
Maler bemerkte, dass seine Hände wieder stärker zitterten. Er sah in den Außenspiegel. Der schwarze Volvo, der einige Zeit hinter ihnen gefahren war, hatte die Autobahn verlassen. Er hatte für einen Moment geglaubt, diesen Wagen auch schon in München gesehen zu haben. Wahrscheinlich hatte er sich geirrt.
6
Der Auftrag
Der Mathematiker Gilbert Kanu-Ide kam sich vor wie in einem Albtraum. War es möglich, dass sein stinknormales, herrlich langweiliges Dasein nur 65 Stunden zurücklag? Sein Wagen schoss über den Waldweg, viel zu schnell. Und genau dafür war er nicht gemacht, der kleine alte Triumph Spitfire mit Faltverdeck, den er sich geleistet hatte, als er den Job am CERN bekommen hatte. Steine krachten von unten an das Chassis, Äste zersplitterten an den Seiten, die Blattfedern ächzten, und die Achsen schlugen bei jedem tiefen Loch hart auf den Boden. Kanu-Ide hatte größte Mühe, das alte Holzlenkrad festzuhalten. Viel, viel zu schnell. Er fuhr viel zu schnell. Aber dennoch zu langsam. Der Wagen, der ihn verfolgte, war ein Geländewagen, ein dunkelgrüner Mitsubishi, ein ähnliches Grün wie sein Triumph, fast schon absurd. Der Mitsubishi klebte an seiner Stoßstange. Es war helllichter Tag, verdammt nochmal, es war helllichter Tag! Sogar die Sonne schien, das herbstliche Licht brach durch das Laub der Bäume. Das konnte alles nicht wahr sein.
Gilbert Kanu-Ide hatte keine Ahnung, wohin der Weg führte. Als die Forstschranke auftauchte, überlegte er kurz, ob er sie durchbrechen konnte. Aber der Schlagbaum war ein massiver Holzstamm und ziemlich genau auf der Höhe seiner Windschutzscheibe. Also bremste er und kam knirschend wenige Meter vor der Schranke zum Stehen. Der Motor ging sofort aus, wie an jeder Ampel, Scheißvergaser. Der Mitsubishi stoppte direkt hinter ihm, ungefähr zwei Millimeter hinter ihm, der Kühlergrill schien das kleine Heckfenster im Faltdach fast zu berühren. Auch dort wurde der Motor abgestellt. Nie vorher hatte der Mathematiker Gilbert Kanu-Ide vor Angst gezittert. Er versuchte zum wiederholten Male, was er in den vergangenen Stunden schon so oft versucht hatte: den Mann anzurufen, der ihm das alles eingebrockt hatte. Seine Finger tippten blitzschnell, während seine Augen im Rückspiegel einen Mann aus dem Mitsubishi aussteigen sahen. Kanu-Ide hörte das Tuten in der Leitung, aber dieser Tretjak nahm nicht ab.
Der Mann hinter ihm hatte etwas in der Hand. Kanu-Ide
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