Die Stunde des Reglers: Thriller (German Edition)
sah genau, was es war, und er wusste, dass es real war, was er da sah. Es war eine Pistole, eine riesige Pistole, die dadurch noch riesiger wurde, dass vorn ein Schalldämpfer aufgeschraubt war.
Plopp.
Der Wagen ruckte, irgendetwas zischte. Kanu-Ide spürte, dass es warm wurde zwischen seinen Beinen. Das Zischen kam vom Hinterreifen. Das Warme bedeutete, dass er sich gerade in die Hose machte.
Plopp.
Der nächste Reifen, jetzt vorn. Der Mann stand neben dem Wagen und winkte mit der Waffe: aussteigen. Er sah aus wie ein Verkäufer in einem Baumarkt, dunkelblauer Arbeitskittel, graue, kurzgeschnittene Haare, graue, teilnahmslos blickende Augen hinter einer schmalgefassten Brille. »Seien Sie bloß vorsichtig«, hatte der Wissenschaftler heute Nacht zu Kanu-Ide gesagt. »Das sind unheimliche Leute, mit denen ist nicht zu spaßen, das sind Killer.« So hatte er das gesagt. Killer.
Kanu-Ide konnte den Befehl des Mannes mit der Pistole nicht befolgen. Er blieb einfach sitzen. Sein Körper gehorchte ihm nicht mehr. Und sein Gehirn, das schon so viele Probleme gelöst hatte, jedenfalls auf dem Papier, wusste nichts Besseres zu tun, als im Zeitraffer zu rekonstruieren, was geschehen war. Als suchte es nach einem Fehler in der Matrix, als wollte es die Rechnung noch mal vom Anfang durchgehen, weil das Ergebnis am Ende nicht stimmte. Nicht stimmen konnte.
Es war der Montag gewesen. Der Tag, an dem Frau Welterlin nicht erschienen war, weil sie überraschend zu irgendeinem Kolloquium reisen musste. So war es ihnen mitgeteilt worden. Aber er wusste ohnehin, was er zu tun hatte, er hatte es ja mit ihr besprochen. Herausfinden, wie viel Zeit sie am Großhirnrechner einsparen konnten, wenn sie mit den Messungen etwas später begannen, näher an t 0 herangingen, den Zeitpunkt des eigentlichen Experimentes. Der Auftrag war relativ öde, erforderte aber viel Rechnerei und präzise Ansätze. Man konnte sich nicht den geringsten Fehler leisten, keine kleinste Ungenauigkeit.
Natürlich ging es immer ein bisschen anders zu, wenn die Chefin nicht da war, laxer eben. Man stand mehr in den Gängen herum, lachte mehr, die Mittagspause geriet auch etwas länger. Und am Schreibtisch schweiften die Gedanken noch leichter ab als sonst. Er fand sie sehr sexy, die Frau Welterlin, und er wusste auch, warum. Sie erinnerte ihn an die Mutter seiner ersten Freundin. Sechzehn waren sie damals gewesen, die Mutter wohl um die vierzig, eigentlich uralt für ihn. Aber sie hatte diese Art von kurviger Figur gehabt, um die sich die Kleider auf besondere Weise legten. Ein kleiner runder Bauch, rechts und links davon zwei Täler, die sanft abfielen und sich zwischen den Schenkeln verloren. Oben richtige Brüste, schwer im BH, das sah man, hinten ein richtiger Po, rund, ausladend und einladend. Einmal hatte sie vergessen, das Badezimmer abzuschließen, er war hereingekommen, und sie hatte nackt vor ihm gestanden. Er sah das dichte dunkle Haar über ihrer Scham, die großen Brustwarzen, nur Bruchteile von Sekunden, dann blickte er weg und stammelte eine Entschuldigung. Sie sah ihm dabei direkt in die Augen, überhaupt nicht erschrocken. ›Macht doch nichts‹, hatte sie gesagt und gelächelt, nur ein ganz kleines bisschen, aber es war unübersehbar gewesen: Sie hatte gelächelt. Mit ihrer Tochter hatte er zum ersten Mal in seinem Leben Sex gehabt. Aber die Mutter geisterte bis heute durch seine Phantasien. Und Sophia Welterlin hatte auch diese Figur, die man nur noch in alten Filmen sehen konnte. Seine jetzige Freundin war eher zwischen Model und Fitnesstrainerin angesiedelt. Kunstgeschichte studierte sie, aber sie ging nie zur Uni, jobbte lieber so herum. Zurzeit als Fahrradkurierin. Hatte sich das ungefähr teuerste Fahrrad der Welt gekauft, und er hatte ihr gesagt, dass sie deshalb in diesem Job eigentlich nie Geld verdienen würde, rein rechnerisch gesehen. Aber er hatte ihr zum Geburtstag etwas Lustiges geschenkt: einen Sensor, den sie an den Schuh stecken konnte. Er war mit GPS ausgestattet und zeichnete im Genfer Stadtplan die Wege ein, die sie auf ihrem Superbike zurücklegte. Hatte er selbst programmiert. So entstand ein optisches Tagebuch, jeden Tag ein neues Linienbild von Genf. ›Ist doch ein tolles Kunstprojekt‹, hatte er zu ihr gesagt. ›Viel zu logisch für Kunst, das kapierst du nicht‹, hatte sie geantwortet. Trotzdem hatte er an diesem Montag etwas Zeit damit verbracht, die Bilder in unterschiedlichen Farben und Kontrasten zu
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