Die Stunde des Reglers: Thriller (German Edition)
zugegeben. »Wir haben es gemacht, weil wir überzeugt sind, dass man nicht tun darf, was ihr da vorhabt am CERN.« Ein ziemlich alter Mann war das gewesen, faltig und weißhaarig und hager. Der Sprecher von »Anima« oder zumindest etwas Ähnliches, vielleicht eine Art Nestor. Er hatte Kanu-Ide gleich am Telefon zu sich nach Hause eingeladen. In ein kleines, ziemlich hässliches Reihenhaus am Stadtrand. Dort hatten sie gesessen, im Wohnzimmer, Tee hatte es gegeben.
»Sie sind Mathematiker, sagten Sie? Ja, die Mathematiker … den Mathematikern ist immer alles gleichgültig. Mit euch kann man nicht reden. Es sind eben nicht nur Zahlen, um die es geht, verstehen Sie? Die Zahlen zeigen uns die Welt, es ist die Sprache Gottes – die Frage ist nur, ob wir sie auch verstehen, wie wir sie verstehen …«
»Anima« war eine Gruppe von Physikern, die fast alle Theorien der modernen Physik ablehnten. Nicht die Formeln, auch nicht die Ergebnisse der Experimente – sondern die Philosophie dahinter, das Weltbild, das daraus entstand. Zum Beispiel die Relativität der Zeit, wie sie Einsteins Theorie formulierte.
»Aber die Relativitätstheorie stimmt. Das Navigationssystem in Ihrem Auto arbeitet mit ihren Gesetzen«, hatte Kanu-Ide gesagt. »Und sorgt dafür, dass Sie nicht an den Baum fahren.«
Da hatte der Alte gleich abgewinkt. »Das weiß ich, junger Mann. Darum geht es nicht. Die Formeln stimmen. Newtons Formeln haben auch gestimmt. Sie haben den Verbrennungsmotor gebracht. Auch nicht schlecht. Ich sage Ihnen, Gott hat die Welt aus drei Stoffen geschaffen: Materie, Raum und Zeit. Eure Interpretation der Formeln sagt, Materie sei nur eine Wahrscheinlichkeitswelle – was für ein absurder Begriff. Die Zeit laufe, wie sie wolle, vor und zurück, schnell und langsam – lächerlich. Und der Raum, der arme Raum, der kriegt von euch jedes Jahr zusätzliche Dimensionen und Krümmungen und Falten und Parallelräume verordnet … Eure Formeln stimmen, junger Mann, aber euren Verstand habt ihr verloren.«
»Und deshalb mussten Sie Frau Welterlin quälen?«
Er war nicht unsympathisch, dieser Alte. Jetzt schüttelte er den Kopf. »War vielleicht nicht richtig, das Ganze. Aber wissen Sie, die jungen Leute in unserer Gruppe wollten auch mal was tun, nicht immer nur reden … Verstehe ich ja, und ich halte das Projekt ›Casimir‹ auch für Gotteslästerung, also warum nicht mal offensiver werden? So war das.«
Aber dann hatte sich etwas verändert. Der Alte hatte ihm erklärt, dass sich »Anima« nur im digitalen Raum zusammenfand. Es gab keine Kaminabende, Workshopwochenenden, auch keine Geheimtreffen in Hinterzimmern. Man begegnete sich nur in speziellen Chatrooms, kommunizierte über E-Mail und Skype. Diskussionen, Abstimmungen, Planung von Aktionen – alles passierte im Internet. Die Sprache war Englisch, die Mitglieder stammten aus ganz Europa. Deutsche, Franzosen, Ukrainer, Engländer … Fast nur Männer. Als sie die Aktion Fass die Vergangenheit nicht an starteten, mit Plakaten an Bauzäunen, nachts geklebt, zeigte das schnell Wirkung. Es gab zwei, drei Artikel in der Zeitung, man rätselte, wer dahintersteckte. Und »Anima« bekam Zulauf, neue Leute, neue Vorschläge. Es wurde schnell unübersichtlich, wer diese Leute waren, wie sie Zugang zu den geschlossenen Foren fanden. Aber alle hatten zunächst den Eindruck, der frische Wind tue der Gruppe gut. Doch dann wurden die Vorschläge für Aktionen radikaler, aggressiver, fokussierten sich immer mehr auf die Person Welterlins. Die »Anima«-Foren wurden überschwemmt mit Bildern und Informationen über sie, es wurden Parolen formuliert, die ganz und gar nicht mehr dem Geist der Gruppe entsprachen.
»Wir merkten, dass wir benutzt wurden, hatten plötzlich den Eindruck, zum Werkzeug einer gezielten Aktion zu werden«, erklärte der alte Physiker. »Es waren auch nicht wirklich viele Leute, es sollte nur den Anschein haben. Wir erkannten das, weil wir die Diskussion suchten, und wir haben Erfahrung mit pluralistischen Diskussionen im Netz. Hier kamen nur stereotype Antworten, so religiöses Ideologiezeugs, egal, wo man ansetzte. Und die weiteren Aktionen, diese direkten Sendungen an Frau Welterlin, waren schon nicht mehr unsere … Uns wurde das unheimlich.«
Der Mann trank seinen Tee, saß da, in seinem Tweedjackett mit korrekt gebundener Krawatte, so wie er wahrscheinlich ein Leben lang immer und überall dagesessen hatte. Gilbert Kanu-Ide hatte in diesem
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