Die Stunde des Schakals (German Edition)
ein Meter fünfzig Höhe! Clemencia wollte gar nicht wissen, wie der dorthin gekommen war.
Sie wartete. Von Fleckenstein hatte versprochen, um 9 Uhr hier zu sein. Ob er als Strafverteidiger viel taugte, wusste Clemencia nicht, doch er war der Beste, wenn es darum ging, Leute auf Kaution herauszuholen. Gestern Abend hatte sich von Fleckenstein am Telefon bestätigen lassen, dass ihr Bruder Melvin keine Vorstrafen hatte und dass sein Kontrahent noch lebte. Dann sollte das kein großes Problem sein. Eine Nacht müsse man sich allerdings gedulden. Man habe eh Glück, dass wegen der Verkehrssicherheitskampagne in den Sommerferien zusätzliche Haftprüfungstermine angesetzt seien, weil sonst die Zellen für die besoffenen Autofahrer nicht ausreichten. Der Grund für die Sonderschichten der Haftrichter lag wohl eher darin, dass die Kollegen von der Verkehrssicherheit im Eifer des Gefechts auch mal ein paar VIPs festnahmen, die man nicht so lange sitzen lassen durfte. Denn ob man in die winzigen Arrestzellen zwanzig oder dreißig Leute stopfte, hatte Clemencias Erfahrung nach noch nie jemanden gekümmert.
Am Abend zuvor hatte sie es nicht geschafft, bis zu Melvin vorzudringen. Den Zutritt musste der Unit Commander persönlich genehmigen, und der war natürlich nicht mehr erreichbar gewesen. Clemencia hätte Druck machen können, wie es wahrscheinlich die meisten ihrer Kollegen getan hätten, doch die betonten auch nicht bei jeder Gelegenheit, dass Vorschriften dazu da waren, eingehalten zu werden. Clemencia hatte die Wachhabenden gebeten, Melvin wenigstens das Flohpulver, das sie mitgebracht hatte, zukommen zu lassen. Das war ihr hoch und heilig versprochen worden.
Aus der Tür der Wache stöckelten drei Mädchen in Miniröcken. Sie waren höchstens zwanzig, sahen aber aus, als hätten sie schon ein paar Jahre Berufserfahrung auf der Straße hinter sich.
Gerade als Clemencia nach ihrem Handy griff, um den Anwalt anzurufen, fuhr von Fleckenstein in einem uralten Mercedes 200 mit roten Ledersitzen und getäfeltem Armaturenbrett vor. Er bog in eine der Parkbuchten vor der Tür ein, wuchtete seinen schweren Körper aus dem Polster und schoss mit ungeahnter Geschwindigkeit an Clemencia vorbei ins Innere der Wache. Als Clemencia ihm nachging, kam er ihr schon wieder entgegen. Im Schlepptau hatte er einen Student Constable, dem er einschärfte, ja gut auf sein Schmuckstück von Auto aufzupassen. Dann wandte er sich an Clemencia und sagte: «Also ran an den Speck!»
Eine Viertelstunde später saß ihnen Melvin in einem der Dienstzimmer gegenüber. Sein linkes Auge war zugeschwollen, die Lippe aufgeplatzt. Ansonsten trug er genau den trotzigen Gesichtsausdruck zur Schau, den er schon als Kind hatte, wenn er sich ungerecht behandelt fühlte. Herrgott, Brüderlein! Das Leben war so schon schwer genug, da musste man doch nicht selbst noch dauernd Mist bauen.
«Geht’s gut?», fragte von Fleckenstein.
«In dem Dreckloch?», fragte Melvin zurück und kratzte sich in der Ellenbeuge. Bis hinauf zum Ärmel seines Fußballshirts waren entzündete Bisse zu sehen.
«Sie haben dir das Pulver nicht gegeben?», fragte Clemencia.
«Welches Pulver?»
«Hast du ’nen Floh, wirst du nicht froh», meckerte von Fleckenstein fröhlich. Dann sagte er: «Dein Boxfreund hat zwei gebrochene Rippen.»
«Bloß?», fragte Melvin.
«Für einen technischen K. o. reicht das.»
«Ich hätte ihn totgeschlagen, wenn sie mich nicht zurückgezerrt hätten», sagte Melvin.
«Hör zu, Junge!» Von Fleckenstein verschränkte die feisten Arme über seinem Bauch. «Wenn es dir im Knast so gut gefällt, dann mach weiter auf diese Tour!»
Melvin starrte auf den Trinkwasserbehälter in der Zimmerecke. Auf der Ablage daneben waren Plastikbecher gestapelt. Weiter links stand einer der Uniformierten.
«Jetzt schieß los!», sagte von Fleckenstein. «Und immer schön der Reihe nach!»
«Krieg ich ein Glas Wasser?», fragte Melvin.
«Nein», sagte von Fleckenstein.
Melvin begann stockend. Seit 11 Uhr vormittags war er in der Mshasho Bar herumgehangen, hatte gesoffen, gequatscht, gesoffen. Irgendwann hatte sich ein Kerl neben Melvin an die Theke gestellt und ihn gefragt, ob er Geld brauche. Melvin hatte losgeprustet. Man sehe doch wohl, dass er Millionär wäre! Der andere hatte nicht mitgelacht, sondern zwei Hunderter aus der Tasche gezogen, sie vor Melvins Augen vorbeiflattern lassen und wieder eingesteckt.
Worum es sich handle, hatte Melvin gefragt.
Der
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