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Die Stunde des Schakals (German Edition)

Die Stunde des Schakals (German Edition)

Titel: Die Stunde des Schakals (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bernhard Jaumann
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andere hatte zwei Bier bestellt und sich nach Melvins Familie erkundigt. Wie es dem Vater gehe und den Schwestern?
    «Geht schon», hatte Melvin gesagt.
    Die eine Schwester, die habe doch zwei Kinder?
    «Jessica und Timothy», hatte Melvin gesagt.
    Ob die Jessica schon einen Freund habe?
    Melvin hatte gelacht. Jessica war gerade erst elf Jahre alt geworden.
    Ach ja? Der andere hatte genickt und gefragt, ob Melvin sich als Onkel ab und zu um die Kleinen kümmere.
    «Wieso?», hatte Melvin zurückgefragt.
    Na, ob er vielleicht mal mit ihnen spazieren gehe oder zum Fußball, wenn «Black Africa» spielte?
    «Eigentlich nicht», hatte Melvin gesagt.
    Der andere hatte einen tiefen Schluck aus seiner Flasche genommen. Dann hatte er gesagt, dass er durchaus mal eine Stunde oder zwei auf Jessica aufpassen würde. Wie beiläufig hatte er hinzugefügt: «Zweihundert Dollar!»
    Da hatte Melvin zugeschlagen. Mit dem ersten Hieb hatte er nicht voll getroffen, sodass er auch eine oder zwei abbekommen hatte, doch irgendwann war der andere zu Boden gegangen, und Melvin hatte mit den Füßen auf ihn eingetreten. Wenn die anderen ihn nicht zurückgerissen hätten, hätte er weitergemacht, bis das Schwein …
    «Ja, das wissen wir schon», sagte von Fleckenstein.
    Melvin kratzte sich am Arm. Das T-Shirt, das er trug, war gelb und an den Ärmeln grün abgesetzt. So ähnlich wie das Trikot der brasilianischen Fußballnationalmannschaft. Auf dem Rücken des T-Shirts stand «Kakà». Die Buchstaben hatte Melvin selbst aus irgendeinem Fetzen grünen Stoffs ausgeschnitten. Constancia, Jessicas Mutter, hatte sie ihm angenäht.
    «Kann der Junge vielleicht mal etwas Wasser haben?», fragte von Fleckenstein. Der Wachhabende griff nach einem Becher und füllte ihn.
    «In der Bar sagen sie, dass man das HIV-Virus loswird, wenn man mit einer Jungfrau vögelt», sagte Melvin, «aber das stimmt doch nicht, oder?»
    «Nein», sagte Clemencia. «Das ist völliger Quatsch.»
    «Und wenn», sagte Melvin, «selbst wenn es stimmen sollte, dann nicht mit Jessica!»
    «Ihr wird nichts geschehen», sagte Clemencia, obwohl sie genau wusste, dass sie das genauso wenig garantieren konnte wie irgendjemand sonst. In Katutura konnte man die Kinder nicht den ganzen Tag einsperren. Dafür fehlte schon der Platz. Sie mussten hinaus auf die Straße, zogen mit ihren Freunden mal zum einen, mal zum anderen, trieben sich unten im Rivier herum, streunten bis zur UN-Plaza. Trotzdem, man musste Jessica einschärfen, sich vor Männern in Acht zu nehmen. Und man musste sie im Auge behalten. Die zwei Tage, die Constancia zum Putzen ging, musste das eben jemand anders aus der Familie übernehmen.
    «Sehe ich so aus wie jemand, der seine kleine Nichte verkauft?», fragte Melvin. Der Zorn ließ seine Lippen zittern.
    «Nein», sagte Clemencia. Melvin sah aus wie ein abgerissener, von Flöhen zerbissener Junge, der die Schule ohne Abschluss verlassen hatte und seitdem orientierungslos herumhing. Der ab und zu ein paar Dollar bei irgendwelchen dubiosen Jobs verdiente, über die er keine Auskunft geben wollte. Der das Geld sofort in seine Stammkneipe trug und erst am nächsten Vormittag besoffen heimwankte. Der sich – sobald er wieder nüchtern war – hinsetzte und seinem Neffen ein Spielzeugauto aus Draht bastelte. Der Clemencia einmal gestanden hatte, dass er keine Ahnung habe, was das Wort «Zukunft» eigentlich bedeuten sollte. Dessen größter Traum es war, bei der Fußball-WM in Südafrika die Brasilianer spielen zu sehen. Der aber genau wusste, dass dies für immer ein Traum bleiben würde. Melvin war Clemencias kleiner Bruder. Das würde sich nie ändern.
    «Der Haftprüfungstermin ist um 12 Uhr», sagte von Fleckenstein. «Der Richter wird die Kaution auf dreihundert bis fünfhundert Dollar festsetzen. Um 12 Uhr 30 bist du draußen, wenn du …»
    «Ich habe keine dreihundert Dollar», sagte Melvin.
    «… wenn du versprichst, den anderen Kerl nicht mehr anzurühren. Der hat sowieso kapiert, was Sache ist.»
    Der vielleicht, dachte Clemencia, aber was war mit den Tausenden anderen, die keine retroviralen Medikamente erhielten? Die sich erfolglos mit Rote-Beete-Saft und irgendwelchen anderen Wundermitteln zu kurieren versuchten? Die sich an jede noch so idiotische Hoffnung klammerten, weil sie nichts mehr zu verlieren hatten?
    «Ich habe nicht mal zehn Dollar», sagte Melvin.
    «Notfalls leihe ich dir das Geld», sagte von Fleckenstein und stand ächzend auf. An der

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