Die Stunde des Tors
schien.
Für Jon-Tom sah es wie eine Kathedrale aus. Die Decke der großen unterirdischen Kammer war weit über hundert Meter hoch. Türme, Aufbauten und Fialen reichten fast bis an sie heran.
Der biolumineszente Bewuchs war hier besonders dicht und die Kammer und ihre entferntesten Bereiche so intensiv erhellt, daß die Reisenden mehrere Minuten brauchten, um sich an die unerwartete Lichtmenge anzupassen.
Das Ganze schien mehr wie hundert Kathedralen, überlegte Jon-Tom, die alle in Miniaturausführung übereinander und ineinander verschachtelt waren. In jeder Linie und in jedem Bogen des labyrinthischen Baus wurden liebevolle Sorgfalt und exzellentes handwerkliches Können offenbar. Tausende weniger, farbiger Fenster glommen in Dutzenden von Ebenen. Das Bautengefüge nahm einen Großteil der gewaltigen Kammer ein.
Als er die Entfernungen und Ausmaße abzuschätzen versuchte, fiel ihm mehr zufällig auf, daß der Komplex in einem vollen, metallischen Goldton glänzte. Das mochte natürlich das Ergebnis ausgiebiger Verwendung entsprechender Farbe sein. Doch er beschloß trotzdem, den habgierigen Otter im Auge zu behalten.
Der Begriff Miniatur war auf mehr als nur das Gebäude anwendbar. Als klar wurde, daß die fremdartigen Gestalten auf dem sonderbaren Boot nicht feindselig waren, begannen die Erbauer, sich selbst zu zeigen.
Nicht größer als zehn Zentimeter, waren die kleinen Leute von einem dichten, dunkelbraunen Fell bedeckt, das an Zobel erinnerte. Dieses Fell war ziemlich kurz, und auf den Schädeln sowohl der Männer als auch der Frauen wuchs langes, feines Haar der gleichen Tönung. Sie ergossen sich scharenweise aus Kämmerchen und winzigen Türen. Die meisten gingen an ihre Arbeit an dem Baukomplex zurück. Gerüste bedeckten in großen Flächen Brustwehre, Türme, Türmchen und Fialen. Eine Gruppe aus mehreren Dutzend richtete ein großes schweres, über ein Meter hohes Fenster ein.
Bribbens ließ das Boot langsam am Uferstreifen entlangtreiben. Aus dieser kurzen Entfernung konnten sie jetzt auch Tausende von goldenen Skulpturen an dem Gebäude entdecken: fratzenhafte Dämonen, wurmgroße Schlangen und Dinge, die nur halb erfaßbar waren, da sie anderen Dimensionen mit einer abweichenden biologischen Grundstruktur entstammten. Anders als die Gnietschies, konnten die wundersamen Geschöpfe gesehen, wenn auch nicht völlig wahrgenommen werden.
Als das Boot noch näher herantrieb, begannen Tausende winziger Arbeiter unbehaglich und beunruhigt durcheinander zuwogen, um sich bei Türen und anderen Durchlässen zusammen zu ballen.
Jon-Tom versuchte, ihre Besorgnisse und Ängste zu beseitigen. »Wir führen nichts Böses gegen euch im Schilde!« rief er ihnen vom Bug her freundlich zu. »Wir durchkreuzen nur euer Gebiet und bewundern euer unglaubliches Gebäude. Wozu dient es?«
Vom Kamm eines wasserumspülten Felsens rief ein neun Zentimeter großes, fellbedecktes Nymphchen etwas zu ihm zurück. Er mußte sich anstrengen, um die winzige Dame zu verstehen.
»Es ist das Gebäude«, erklärte sie ihm prosaisch, als sei das eine für jeden ausreichende Erklärung.
»Ja«, er senkte seine Stimme noch mehr, als er erkannte, daß sein normaler Tonfall für sie schmerzhaft laut war, »aber wozu dient es?«
»Es ist das Gebäude«, wiederholte die bepelzte Kobolddame.
»Wir nennen es ›Herz der Welt‹ . Strahlt es nicht hell?«
»Sehr hell«, sagte Talea anerkennend. »Es ist sehr schön. Aber wozu ist es gut?«
Das kleine Geschöpf mit der braunen Flaumbehaarung lachte hell und leise. »Wir sind uns nicht sicher. Wir arbeiten schon immer an dem Gebäude. Wir werden immer an dem Gebäude arbeiten. Wofür soll man leben, wenn nicht für das Gebäude?«
»Du sagst, ihr nennt es »Herz der Welt‹ .« Jon-Tom betrachtete die strahlenden Wände, die glitzernden Streben und Turmspitzen. Zuerst hatte er gemeint, es sei aus Gold, dann aus übermaltem Stein, jetzt war er sich nicht mehr sicher. Es konnte aus einem anderen Metall sein, oder Kunststoff oder Keramik oder irgendeinem unvorstellbaren Material, von dem er nichts wußte.
»Vielleicht ist es wirklich das Herz der Welt selbst«, schlug die kleine Dame vor. Sie lächelte fröhlich und zeigte perfekte winzige Zähne. »Wir wissen es nicht. In ihm pulsiert das Licht wie in unseren Herzen das Blut. Wenn unsere Arbeit anhielte, würde vielleicht das Licht aus der Welt verschwinden.«
Jon-Tom überlegte, ob er noch etwas sagen sollte, brachte aber
Weitere Kostenlose Bücher