Die Stunde des Venezianers
seinen Blick sorgsam mied. Sie hätte gerne gewusst, was er dachte. Seine Stimme gab ihr keinen Hinweis.
»Fragt mich lieber, was nicht geschehen ist«, entgegnete sie bitter. »Seit er einsehen musste, dass er nie Rubens Platz an meiner Seite einnehmen wird, hat er sich verändert, ist unberechenbar geworden. Ich weihe ihn deshalb auch nicht mehr in meine Pläne ein, ehe alles entschieden ist, aber ich darf es auch noch nicht auf eine offene Machtprobe ankommen lassen. Ich bin eine Frau und trotz meiner flämischen Abstammung eine Fremde in dieser Stadt.«
Sie bemerkte, dass die beiden Männer einen schnellen Blick wechselten, und fuhr hastig fort: »Ich brauche Eure Hilfe, ich räume es offen ein. Aber es geht nicht um den Machtkampf im Hause Cornelis oder den Überfall bei Reims. Ich habe Schulden bei Euch, und ich habe einen Weg gefunden, meine Schulden endlich tilgen zu können. Bitte hört mich an.«
In kurzen Zügen umriss sie ihre Vorstellung von einer eigenen Kleiderfabrikation. Mittlerweile konnte sie Zahlen nennen. Sie wusste, wie viel Ellen Stoff für den Anfang in etwa benötigt wurden, wie viele Näherinnen erforderlich waren.
Contarini verhehlte seine Bewunderung nicht.
Von den vorgefertigten Zuschnitten bis zum durchschnittlichen Arbeitsaufwand pro Gewandstück hatte sie nahezu an alles gedacht. Dennoch sah er sich gezwungen, ihre Höhenflüge zu dämpfen.
»Ihr sprecht von Massenware aus minderwertigen Wollstoffen, vielleicht sogar aus Leinengemischen und Ähnlichem. Im Gegensatz zu Brügger Tuch sind solche Gewebe billig, dem stimme ich zu, aber die Gewinnspanne ist zu gering. Ihr müsstet Hunderte und mehr Kleidungsstücke verkaufen, um vernünftige Erträge zu erzielen. Dafür ist in Brügge kein ausreichender Bedarf.«
Aimée ließ ihn gelassen ausreden. »Seine Gnaden, Philipp der Kühne, erwartet von mir ein Angebot für die Bekleidung von zweihundertfünfzig Männern.«
»Männern?«
Contarini und Salomon fragten es wie aus einem Munde.
»Soldaten. Es handelt sich darum, die Truppen des Herzogs einheitlich zu kleiden, damit sie im Kampf nicht mit den gegnerischen Männern verwechselt werden können. Wämser und Beinkleider einer gemeinsamen Form und Farbe werden es ihnen erleichtern, die eigenen Kameraden in der Schlacht zu erkennen.«
Schweigen füllte die Stube. Aimée lächelte. Sie war zufrieden mit der Wirkung ihrer Worte. Contarinis Augen waren schmal geworden. Eine steile Falte furchte seine Stirn. Er dachte nach. Sie fühlte es, sie hatte ihn überzeugt.
»Ihr braucht eine geräumige Halle oder ein Haus, in dem der größte Teil der Näherinnen für Euch arbeiten kann. Auch entsprechende Lagerräume für den Stoff und die fertigen Teile. Mit kleinen Schneiderstuben allein ist es nicht getan«, sagte er schließlich und griff nach einer der Wachstafeln, die auf dem Tisch lagen, um weitere Berechnungen durchzuführen.
Aimée beherrschte ihre Erleichterung.
»Genau hier beginnt mein Problem. Mir liegt daran, die Angelegenheit im Geheimen und ohne Colards Wissen voranzutreiben. Er würde mir nur Steine in den Weg legen und im schlimmsten Fall Anselm Korte informieren. Mir scheint es sogar ratsam, die Fabrikation auf das Land zu verlegen. In einem der Orte, die unter dem Schutz des Grafen von Flandern stehen, wäre sie besser aufgehoben als in Brügge. Ludwig von Male befürwortet, dass die Bauern Flachs anbauen, Wolle weben und Webstühle betreiben, also muss ihm auch daran gelegen sein, dass sie ihre fertigen Tuchrollen verkaufen können – an mich.«
»Ihr habt an alles gedacht«, staunte Contarini.
Sie sah die Anerkennung in seinen Augen und strahlte ihn an.
»Ich kann es freilich, wie gesagt, nicht alleine in Gang setzen. Ich brauche Hilfe. Einen verlässlichen Partner, der sich um ein Gebäude, den Ankauf der Stoffe und um den Transport der fertigen Ware kümmert, während ich die Schneider für meine Zwecke zu gewinnen habe. Wenn die Zuschnitte von Meistern gemacht werden, haben es die Näherinnen einfach«, beendete sie schließlich ihre Darlegungen. »Wie steht Ihr dazu?«
»Ich nehme an, Ihr braucht auch einen Teilhaber, der die Unkosten für das Unternehmen vorstreckt.«
Contarini füllte einen zweiten Pokal mit Wein und reichte ihn Aimée, die vorsichtig daran nippte, ehe sie ihn zurückstellte.
»Ich habe die Zinsen, die ich Euch für dieses Jahr schulde, zur Seite gelegt. Ich dachte, Ihr könntet sie vielleicht dafür heranziehen«, schlug sie unverblümt
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