Die Stunde des Venezianers
29. JULI 1369
Die Münzwaage auf ihrem Messingsockel pendelte in exaktem Gleichgewicht aus. Colard nahm zufrieden das letzte Goldstück aus der Schale. Es war der Erlös aus dem Verkauf des Schmucks.
»Du traust dem Juden nicht.« Joris hatte an seinem Schreibpult die Kontrolle verfolgt.
»Wer Geldverleihern traut, dem ist nicht zu helfen«, antwortete Colard. Er band das letzte der ledernen Münzsäckchen sorgfältig über Kreuz zusammen. »Erinnerst du dich nicht, was der Geschichtsschreiber Mathias Parisiensis über Wucherer gesagt hat? Verräter sind sie und Betrüger. Sie verschlingen nicht nur die Menschen und die Haustiere, sondern auch Mühlen, Schlösser, Bauernhöfe, Wiesen, Gehölze und Wälder. Sie mästen sich mit der Not der anderen.«
»Klingt gut.«
»Noch besser ist, dass wir nun die Mittel haben, unseren Wollhandel zu aktivieren.«
»Dank der jungen Herrin, die so klaglos ihre Juwelen geopfert hat.«
»Bis auf den hübschen Diamanten, den sie nach wie vor am Finger trägt«, widersprach Colard kalt.
Joris hob die dünn gewordenen Brauen in seinem faltigen Gesicht. Er kannte Colard wie seinen eigenen Sohn. Colard konnte nicht verbergen, dass ihm der freundschaftliche Umgang, den Joris inzwischen mit Aimée pflegte, ein Dorn im Auge war.
In mehreren Gesprächen war ihm klar geworden, wie bewandert und gescheit diese Frau war. Er hatte sie schätzen gelernt, und ihr Rat wurde ihm zunehmend wichtiger. Es war ihm unverständlich, warum Colard sie nach wie vor mit solcher Leidenschaft ablehnte.
»Warum kämpfst du so vehement gegen die junge Herrin? Sie kann uns eine große Hilfe sein. Auf dem Lehen ihrer Familie hat sie viel gelernt und weitreichende Einblicke gehabt.«
»Sie hat dir die Sinne betäubt. In deinem Alter. Du solltest dich schämen.«
»Hör auf zu spotten, Colard. Aimée Cornelis kann einen Menschen brauchen, der zu ihr hält. Deine Tante macht ihr das Leben hier schwer.«
»Lass Frau Sophia nicht hören, was du von Aimée hältst.«
»Ich fürchte ihre Bösartigkeit schon lange nicht mehr. Sie macht der jungen Frau das Leben zur Hölle, und die muss es hinnehmen, weil Ruben nicht die Stärke besitzt, sie vor der eigenen Mutter zu schützen. Er hat ihr in Gent den Helden vorgespielt, und in Brügge musste sie erkennen, dass er in Wirklichkeit ein Schwächling ist.«
Allein Joris durfte sich diese geharnischte Kritik an der Familie Cornelis herausnehmen.
»Ich frage mich, was den Herzog dazu bewogen hat, die beiden zu verheiraten?«, sagte Colard nachdenklich. »Auch wenn die Cornelis' zu den ersten Familien von Brügge zählen, so bedeutet dieser Bund für eine Andrieu doch einen Abstieg ins Bürgertum.«
»Warum fragst du sie nicht einfach?«
»Gott bewahre«, brauste Colard auf. »Im Grunde geht es mich nichts an. Bei der Gelegenheit will ich dir jedoch sagen, dass es mir nicht gefällt, sie ständig an deiner Seite zu sehen.«
»Sie hat einen klugen Kopf, und sie schreibt die saubersten Briefe, die mir je begegnet sind«, antwortete Joris trocken. »Sie rechnet schneller als ich, und sie übersetzt die lateinischen Briefe unserer Handelspartner aus Florenz und Mailand in vernünftiges Flämisch. Mir ist sie eine große Stütze. Auch ich werde älter.«
»Bisher ging es auch ohne sie«, brummte Colard verächtlich.
»Man könnte geradezu auf die Idee verfallen, dass du Angst vor ihr hast«, sagte Joris bedächtig.
»Hast du den Verstand verloren? Was bringt dich auf eine so absurde Idee?«
»Ihr Aussehen. Sicher ist dir aufgefallen, wie sehr sie dem Mädchen auf dem Bild gleicht, das lange Zeit in der Schlafkammer deines Vaters hing. Als kleiner Junge konntest du Stunden damit zubringen, das Gemälde zu betrachten. Dein Vater hat mir erzählt, dass Piet Cornelis dieses Porträt im vergangenen Jahrhundert malen ließ. Kommt es dir nicht vor, als wäre die gemalte Schönheit wie durch ein Wunder lebendig geworden?«
Colard versuchte, seine Betroffenheit zu verbergen.
»Ein Heiligenwunder? Narretei. Eines ist sicher, Rubens Frau ist keine Heilige.«
»Wer sagt denn, dass das Bild eine Heilige darstellt?«
Etwas in Joris' Stimme ließ Colard stutzen.
»Was weißt du?«
»Nichts Genaues. Zu Zeiten deines Vaters kursierten Gerüchte und Vermutungen. Der alte Cornelis begrub mehrere Ehefrauen, aber man sagte, zugetan sei er nur der ersten gewesen, die ihm eine Tochter geschenkt habe.«
»Was wurde aus diesem Kind?«
»Angeblich hat das Mädchen in Frankreich einen
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