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Die Sturmfluten des Frühlings

Die Sturmfluten des Frühlings

Titel: Die Sturmfluten des Frühlings Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ernest Hemingway
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Henry James mit der Krankenschwester. Henry James öffnete auch nicht ein einziges Mal die Augen. ‹Schwester›, sagte Henry James, ‹Schwester, machen Sie die Kerze aus und sparen Sie mir das Erröten.› Das waren die letzten Worte, die er überhaupt sprach.»
    «James war schon ein großer Schriftsteller», sagte Scripps O’Neil. Er war eigentümlich von der Geschichte berührt.
    «Du erzählst es nicht immer auf die gleiche Art, meine Liebe», bemerkte Mrs. Scripps zu Mandy. Mandy hatte Tränen in den Augen. «Henry James bedeutet mir sehr viel», sagte sie.
    «Was war denn los mit James?» fragte der Reisende. «War Amerika denn nicht gut genug für ihn?»
    Scripps O’Neils Gedanken drehten sich um Mandy, die Kellnerin. Was für eine Vergangenheit sie haben mußte, dieses Mädchen! Was für einen Schatz an Anekdoten! Wenn einem so eine Frau half, konnte es ein Mensch weit bringen. Er streichelte den kleinen Vogel, der auf der Theke vor ihm saß. Der Vogel pickte an seinem Finger. War der kleine Vogel ein Habicht? Vielleicht ein Falke, aus einer der großen Falknereien von Michigan? War es vielleicht ein Rotkehlchen? Das auf irgendeiner grünen Wiese irgendwo am ersten jungen Wurm zog und zerrte? Er wußte nicht recht.
    «Wie heißt Ihr Vogel?» fragte der Reisende.
    «Ich habe ihm noch keinen Namen gegeben. Wie würden Sie ihn nennen?»
    «Warum nennen Sie ihn nicht Ariel?» fragte Mandy.
    «Oder Puck», warf Mrs. Scripps ein.
    «Was heißt denn das?» fragte der Reisende.
    «Es ist eine Figur von Shakespeare», erklärte Mandy.
    «Na, geben Sie dem Vogel doch eine Chance!»
    «Wie würden Sie ihn nennen?» wandte sich Scripps an den Reisenden.
    «Er ist doch wohl kein Papagei, was?» fragte der Reisende. «Nämlich sonst, wenn er ein Papagei ist, könnten Sie ihn Polly nennen.»
    «In der Dreigroschenoper kommt eine Person vor, die Polly heißt», erläuterte Mandy.
    Scripps wußte nicht recht. Vielleicht war der Vogel ein Papagei. Ein Papagei, der sich aus seinem behaglichen Heim bei irgendeiner alten Jungfer verflogen hatte. Dem unbeackerten Boden irgendeiner alten Jungfer New Englands.
    «Warten Sie lieber, bis man weiß, was aus ihm wird», riet der Reisende. «Sie haben ja noch reichlich Zeit, ihm einen Namen zu geben.»
    Dieser Reisende hatte vernünftige Ideen. Er, Scripps, wußte ja nicht einmal, welchen Geschlechts der Vogel war. Ob es ein Vogelmännchen oder Vogelweibchen war. «Warten Sie, bis Sie sehen, ob er Eier legt», schlug der Reisende vor. Scripps blickte dem Reisenden in die Augen. Der Bursche hatte seinen eigenen unausgesprochenen Gedanken Ausdruck verliehen.
    «Sie sind auch nicht von gestern, Sir», sagte er.
    «Na», gab der Reisende bescheiden zu. «Ich bin schließlich nicht umsonst all die Jahre gereist.»
    «Das stimmt, Kamerad.»
    «Das ist ein hübscher Vogel, den Sie da haben, mein Freund», sagte der Reisende. «Den Vogel dürfen Sie nicht aus den Fingern geben.»
    Scripps wußte es. Ja, diese Reisenden, die waren nicht von gestern. Die reisten kreuz und quer über die Oberfläche unseres großen Amerika. Diese Reisenden, die hielten ihre Augen offen. Das waren keine Dummköpfe.
    «Hören Sie mal», sagte der Reisende. Er schob seine Melone aus der Stirn, beugte sich vornüber und spuckte in den großen Spucknapf aus Messing, der neben seinem Hocker stand. «Ich möchte Ihnen gern was ganz Wunderbares erzählen, was mir mal in Bay City passiert ist.»
    Mandy, die Kellnerin, beugte sich vor. Scripps beugte sich dem Reisenden zu, um besser zu hören. Der Reisende blickte Scripps um Entschuldigung bittend an und streichelte den Vogel mit dem Zeigefinger.
    «Ich erzähl’s lieber ein andermal, mein Freund», sagte er. Scripps verstand. Aus der Küche her drang durch das Schiebefenster im Lokal ein schrilles, gespenstisches Lachen. Scripps lauschte. Konnte es das Lachen des Negers sein? Er wußte nicht recht.

4
    Scripps pflegte morgens langsam zur Arbeit in die Pumpenfabrik zu gehen. Mrs. Scripps pflegte aus dem Fenster zu blicken und zu beobachten, wie er die Straße hinaufging. Jetzt blieb ihr nicht mehr viel Zeit, um den Guardian zu lesen. Nicht mehr viel Zeit, um über englische Politik zu lesen. Nicht mehr viel Zeit, um sich über die Kabinettskrisen drüben in Frankreich Gedanken zu machen. Die Franzosen waren ein merkwürdiges Volk. Die Jungfrau von Orleans. Eva Le Gallienne. Clemenceau. Georges Carpentier. Sacha Guitry. Yvonne Printemps. Grock. Les Fratellinis. Gilbert

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