Die Sturmreiterin - Hennen, B: Sturmreiterin
Gabriel.
Gabriela brach in schallendes Gelächter aus. »Du solltest nicht alles glauben, was man sich auf einem Kasernenhof erzählt. Mein Vater war tatsächlich … «
»Branko!« Es war ihr Onkel, der rief. Vermutlich brauchte er den Jungen für irgendeinen Botengang. »Branko? Zum Teufel auch, wo treibst du Nichtsnutz dich wieder herum!«
Der Stiefelknecht zuckte zusammen. »Ich mach mich jetzt lieber davon. Wenn er mich hier oben erwischt, verdonnert er mich am Ende auch noch zum Arrest. Wir sehen uns heute Abend, wenn ich dir dein Essen bringe … «
»Gut! Pass auf, dass er dich nicht auf der Treppe zu meiner Stube erwischt.«
»Ach was … « Branko huschte durch die niedrige Tür und verschloss sie von außen sorgfältig. Dann schlich er die Stiege hinab, während man unten immer noch den zornigen General rufen hörte.
Wieder allein! Gabriela hockte sich auf den muffigen Strohsack und starrte auf die Holzdielen. Bis zum Abendessen würde es noch etliche Stunden dauern. Wie lange ihr Onkel sie wohl einsperren würde?
Durch eine undichte Stelle im Dach fiel ein nadelfeiner Lichtstreifen in die Kammer. Gäbe es ihn nicht, würde sie nur durch die Trompetensignale im Festungshof erfahren, wann ein Tag endete und wann ein neuer begann.
Ihr Blick wanderte zu der Tür an der Rückwand der Kammer. Was ihr Onkel wohl dahinter verbarg. Das Schlüsselloch musste von der anderen Seite mit einem Lappen verhangen sein. Jedenfalls konnte sie nicht hindurchsehen. Zweimal hatte sie versucht, das Schloss mit einer Haarnadel zu öffnen. Doch unnachgiebig verweigerte es sich all ihren Bemühungen. Sie war gar nicht so sehr daran interessiert herauszufinden, was der alte Pfeifenkopf dort verbarg. Ihr ging es darum, einen Platz zu haben, an dem sie ein paar Schritt gehen konnte. In der Dachkammer konnte sie nicht einmal direkt unter dem Giebel aufrecht stehen. Und sobald sie zwei Schritte machte, stand sie entweder vor der verschlossenen Tür zum Speicher oder aber vor der Tür, hinter der die Stiege zum Dachboden lag.
Ihr Blick ruhte unverwandt auf dem Schloss zur Speichertür. Vielleicht sollte sie noch einmal versuchen, es zu öffnen. Bis Branko käme, um ihr das Abendessen zu bringen, würden noch viele, endlose Stunden vergehen.
Wieder rannte eine Sturmbö gegen das Dach an und ließ die schweren alten Balken erbeben. Fünf Wochen war Gabriela nun schon in ihrer Kammer gefangen. Nur an jedem Sonntagmorgen durfte sie in die Küche hinabsteigen, um sich dort an einem hölzernen Schuber zu waschen. Ihren Onkel hatte sie seit der Nacht des Wettschießens nicht mehr gesehen. Langsam bekam sie Angst, er würde sie für immer hier oben eingesperrt halten wie einen verkrüppelten Wechselbalg, den man vor den Augen der Welt verstecken musste.
Sie tastete sich mit den Fingern über die Wange. Die Narbe war nicht mehr so hart wie vor ein paar Wochen. Doch wie gut die Salbe des Medicus Arcimbaldo geholfen hatte, vermochte sie nicht zu sagen. Sie besaß keinen Spiegel und musste sich im Wasser der Waschschüssel betrachten. In dem braunen Tongefäß konnte sie nur wenig mehr als den vagen Umriss ihres Gesichtes erkennen. Ob die Narbe wohl wirklich bis auf einen feinen, weißen Strich verschwinden würde, wie es der wandernde Medicus versprochen hatte? Aber was bedeutete das schon, wenn sie ihr Leben in dieser winzigen Kammer fristen musste, wo sie außer Branko niemanden sah.
Der Junge brachte ihr zweimal am Tag Essen und hatte die Aufgabe, ihren Nachttopf zu leeren. Manchmal war Zeit, ein wenig mit ihm zu reden. So erfuhr sie von den Dingen, die in der Garnison vor sich gingen. Auch hatte er ihr von den Gerüchten über einen Werwolf erzählt, der die Schafherden der umliegenden Dörfer heimsuchte.
Meist jedoch wachte ihr Onkel streng darüber, dass sein Stiefelknecht nicht zu lange bei ihr blieb. Sobald Branko die Tür schloss, blieb ihr nichts, als die nicht enden wollenden Stunden zu zählen.
Fünf Mal hatte sie versucht, die Tür zum angrenzenden Speicher aufzubrechen. Aber sie besaß nicht das nötige Werkzeug. Ihren Säbel und die Pistolen hatte der General ihr abnehmen lassen, als ihre Gefangenschaft begann. Manchmal glaubte sie, sie müsste wahnsinnig werden. In den ersten Tagen hatte sie viel geschlafen, aber jetzt gelang es ihr nicht einmal mehr, in ihre Träume zu flüchten. Die einzige Unterhaltung, die ihr Onkel ihr gönnte, war eine Bibel, in der sie manchmal las, wenn Branko ihr mit dem Essen auch eine Kerze
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