Die Sturmreiterin - Hennen, B: Sturmreiterin
Erschrocken drehte sie sich um … Doch außer wirbelnden Nebelschwaden und grauen Buchenstämmen war da nichts. Ihre Hand zitterte jetzt. Es war leichtfertig gewesen, allein in den Wald zu gehen! Vielleicht sollte sie einfach stehen bleiben und darauf warten, dass der Nebel sich lichtete? Doch das würde sie auch nicht vor dem Wolf schützen!
Noch einmal drehte sie sich und starrte in die treibenden Nebelfetzen. Dann setzte sie ihren Weg fort. Dabei betete sie leise, dass sie die Ruine nicht verfehlte.
Bald kam es ihr vor, als irre sie schon stundenlang durch den Wald. Noch immer hatte die Sonne die Dunstschleier nicht aufgelöst. Das Licht drang so schwach durch die Bäume, dass es unmöglich war, abzuschätzen, wie spät es sein mochte. Ob ihr Onkel sie schon vermisste? In den letzten Wochen hatten sie sich angewöhnt, gemeinsam ihr Mittagsmahl einzunehmen. Heute würde daraus nichts! Selbst wenn sie sofort umkehrte und sich auf dem Weg zum Bauernhaus nicht verirrte, würde sie es wohl nicht mehr schaffen, rechtzeitig in der Festung zu sein. Missmutig dachte sie an ihre Gefangenschaft in der Dachkammer. Ob er sie auf die gleiche Weise bestrafen würde wie nach dem Wettschießen?
Ganz in der Nähe flogen ein paar Waldhühner auf. Deutlich hörte Gabriela den ratternden Flügelschlag. Sie verharrte. Was mochte die Vögel wohl aufgescheucht haben? War der Graue hier und belauerte sie? Und wenn ja, worauf wartete er? Warum packte er sie nicht einfach bei der Kehle?
Sie lehnte sich mit dem Rücken an einen dicken Buchenstamm. So könnte der Wolf sie wenigstens nicht überraschend von hinten niederreißen.
Gabriela dachte an die Jagd mit ihrem Vater. Angeblich griffen Wölfe keine Menschen an … Es sei denn, sie hatten sehr lange kein Wild mehr geschlagen. Sie erinnerte sich, wie sie mit ihrem Vater abends am Lagerfeuer gesessen hatte. Fast jedes Wort ihrer Gespräche war ihr noch im Gedächtnis. Für Einzelgänger, die von ihrem Rudel ausgeschlossen waren, galten andere Gesetze, hatte er damals gesagt.
Ein Einzelgänger war der graue Jäger ganz gewiss. Ein Rudel Wölfe wäre längst gesehen und aufgespürt worden. Doch ihr Wild war zu klug. Bislang war dieser Wolf allen Jägern entwischt, die versucht hatten, sich auf seine Fährte zu setzen.
Gabriela stieß sich von dem Baumstamm ab und ging ein Stück weiter. Ganz allmählich wurde der Nebel lichter. Die Sonne siegte zu guter Letzt also doch. Sie blickte zum Himmel hoch. Matt glänzten die Strahlen des Himmelsgestirns durch das lichte Laubdach des Waldes und die grauen Dunstschwaden. Es würde noch etwas mehr als zwei Stunden bis Mittag dauern und … Die Turmspitze! Dunkel erhob sich die Ruine zu ihrer Linken. Sie hatte den Weg also nicht verfehlt!
Aus den Augenwinkeln sah sie, wie sich ein grauer Schatten aus dem Dunst löste. Erschrocken duckte sie sich. Ihr Schuss zerriss die Stille. Schwer wie ein Fels prallte der Leib des Wolfes auf ihre Brust. Seine Krallen durchdrangen ihren Rock und ihr Hemd. Der stinkende Atem der Bestie schlug ihr ins Gesicht. Sie stürzte. Jetzt war es vorbei! Das Raubtier würde ihr die Kehle herausreißen. Verzweifelt bemühte sie sich, die zweite Pistole aus ihrem Gürtel zu ziehen. Zitternd riss sie am Hahn. Sie würde die Waffe der Bestie direkt auf die Brust setzen und … Bevor die Feder des Pistolenhahns einrasten konnte, entglitt er ihr und der Schuss löste sich. Durch den dicken Stoff der Hose spürte sie die Stichflamme, die aus der Mündung schlug. Der Schuss war vertan und … Noch immer hatten sich die Fänge des Wolfes nicht um ihre Kehle geschlossen. Das Tier lag schwer auf ihr und regte sich nicht. Etwas Warmes breitete sich über ihre Brust aus. Blut! Sie stieß das Tier zur Seite. Ein großer, blutiger Fleck klaffte im hellgrauen Pelz unter der Kehle des Wolfes. Die Kugel hatte von schräg unten getroffen und war dem Wolf ins Hirn gedrungen. Er musste schon tot gewesen sein, als er sie zu Boden gerissen hatte. Es war vorbei!
Erleichtert atmete sie auf. Sie blickte von dem Kadaver auf und sah geradewegs in zwei kristallklare, blaue Augen. So nah, dass sie ihn fast mit ausgestreckter Hand hätte berühren können, stand ein zweiter Wolf vor ihr! Das Tier war völlig ruhig. Es erschien ihr ungewöhnlich groß. Zu groß! Langsam hob sie die Pistole. Sie wusste, dass sie keinen Schuss mehr hatte, und dass der Wolf ihr die Kehle herausgerissen hätte, bevor sie auch nur das Pulverhorn an die Mündung der Waffe
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