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Die Sturmrufer

Die Sturmrufer

Titel: Die Sturmrufer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: blazon
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die den Boden bedeckten, befanden sich glatt geschliffene Muschelschalen, Halbedelsteine, ein wenig Katzengold. Inu sah Blütenkapseln, Samen und Flaumfedern. Und mittendrin lag ein roter Splitter, eingeklemmt zwischen zwei weißen Steinen. Die Steine ließen sich kaum bewegen, sie saßen fest wie Zähne. Inu runzelte die Stirn und setzte nach kurzem Überlegen den Fuß an den Stein. Es gab ein leises Knirschen, als der linke Stein sich leicht verschob. Der Splitter fiel in den entstandenen Spalt. Inu schürfte sich die Finger auf, als er ihn hervorholte. Vorsichtig wischte er den Staub ab und staunte.
    Es war ein länglicher Splitter, so lang wie sein kleiner Finger, und er stammte von einer dunkelroten Koralle – vielleicht ein Stück eines Anhängers? Das Erstaunliche an dem Ding war seine Bearbeitung: Das purpurrote Material war so glatt poliert, dass keine einzige Schleifspur zu sehen war, lediglich einen Teil einer Silberintarsie konnte Inu erkennen – der Anfang eines Bogens vielleicht. Sein Kopf versuchte die Form zu vervollständigen, aber das Bild entwischte ihm wieder und wieder. Ratlos ließ er seinen Blick über den Tümpel schweifen, aber das schwarze Wasser schwieg und schien ihn zu beobachten. Er fröstelte, als ihm auffiel, was sich verändert hatte: Er hörte Tanijen und Sabin nicht mehr sprechen.
    Flüchtig blickte er über die Schulter. Tanijen betrat gerade wieder den Hof. Ganz von allein glitt Inus Hand mit dem Splitter unter seinen Gürtel und versteckte den Fund so beiläufig, als würde er einen Haken zurechtrücken.
    Tanijens helles Haar leuchtete in der Sonne, draußen heulte der Wind um die Mauern. Inu wurde bewusst, dass er zum ersten Mal seit dem letzten Gespräch im Winter mit Tanijen allein war. Bis heute hatte er sich eingeredet, dass er den Streit vergessen hatte und dass Tanijen inzwischen einfach zu den vielen Gesichtern gehörte, die abends in den Wirtshäusern im Licht der Talgkerzen aufleuchteten und bald darauf wieder im Halbdunkel verschwanden. Aber nun, als der schützende Kreis der anderen Menschen fehlte, waren die ganze Enttäuschung und Wut wieder da.
    »Sabin ist zum Strand gegangen«, sagte Tanijen und fuhr sich verärgert mit der Hand durch das Haar. »Manchmal wünsche ich mir wirklich, sie wäre nicht so dickköpfig. Erinnerst du dich noch, als wir damals zu dritt zum Katzenkopffelsen tauchten und…«
    Er verstummte, als hätte er sich bei einer Dummheit ertappt. Eine Weile schwiegen sie beide. Schließlich räusperte sich der Navigator und versuchte ein Lächeln.
    »Ich kann mir denken, wie es dir dabei geht, dass wir jetzt…, hier sind. Gemeinsam, meine ich. Ich bin ja auch nur eingesprungen, als Ruderer. Mir war nicht bewusst, dass wir zusammen auf dem Boot sein würden. Aber ich dachte, es macht dir nichts aus.«
    »Es macht mir auch nichts aus«, log Inu. »Du bist Navigator, ich bin Seiler. Du glaubst an die Sterne, ich an Knoten, Seile und Lote. Du hast mit deinem alten Leben abgeschlossen, ich lebe darin. Unsere Wege haben sich getrennt. Das ist alles.« Und weiß der Himmel, was für ein Navigator du wirklich bist, setzte er in Gedanken hinzu.
    »Willst du… mir nicht die Hand geben, Inu?«, fragte Tanijen leise. »Und den Streit vergessen? Ich habe damals viel gesagt, was ich nicht so gemeint habe. Und du… sicher auch.«
    Einen Augenblick stand wieder Tanijen vor ihm, der Taucher, ohne diese Überheblichkeit, die er seit dem Winter so gern zur Schau trug. Inu war tatsächlich in Versuchung, doch er hielt sich zurück.
    »Ich habe jedes Wort so gemeint, wie ich es sagte«, erwiderte er frostig. »Und bis wir wieder in Dantar sind, müssen wir ohnehin zusammenhalten. Ob wir Freunde sind oder nicht.«
    Tanijen lächelte bitter. »Ja, wir sind alle verbunden«, sagte er mit einer hochmütigen Ironie, die in Inu wieder die Wut entfachte. »Nach dem wundervollen Ehrenkodex der Seiler ist es nicht möglich, ohne Verbindungen zu leben. Die Menschen und das Meer, alle sind verbunden. Man kann die Knoten nur lösen, doch niemals ein Seil einfach durchschlagen. Die Menschen sind also auf Gedeih und Verderb aneinandergekettet. Die Philosophie der Einwanderer von den alten Inseln: Sie gingen entweder alle zusammen unter oder erreichten gemeinsam das Festland. Niemand wurde zurückgelassen. Dumm nur, dass nicht alle sich ohne Fesseln in das Netzmuster fügen, nicht wahr?«
    Inu presste die Lippen zusammen. Ich werde nicht wieder mit ihm streiten, befahl er sich.

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