Die Sturmrufer
durch die waren sie hereingekommen.
»Der Käfig neben der Tür ist umgekippt«, erzählte Amber weiter. »Ich habe ihn mit dem Stock zertrümmert. Aber da war noch etwas: ein Schatten – er hing zwischen den Käfigen.«
Tanijen runzelte die Stirn. »Ein Hallgespenst?«
Amber warf ihm einen ungeduldigen Blick zu und rappelte sich auf.
»Nein, es war ein… Tier oder etwas Ähnliches. Mit weißen Augen. Glaube ich jedenfalls. Ein Kehlenfang vielleicht – oder ein Kellerkriecher, wenn auch ein sehr großer.«
Vor Schmerz verzog sie den Mund, als sie auf die Beine kam und zum Fenster humpelte. Inu trat zu ihr und blickte auf das Meer. Genau unter dem Turm fiel der Fels geradewegs zum Meer ab. Dort unten brodelte und strudelte das Wasser. Es musste tiefes Wasser sein, denn es war dunkel, beinahe schwarz wie der Tümpel. Gischt sprühte weit nach oben.
»Niemand könnte hier hinunterklettern«, sagte Inu. »Und wenn er gesprungen wäre, hätte er es bei diesem Seegang sicher nicht unverletzt überlebt.«
Die Türen hörten auf sich zu bewegen. Das Wimmern erstarb. Die Käfige verloren an Schwung und pendelten langsam aus. »Weißt du, was ich denke?«, sagte Amber zu Tanijen. »Auf dieser Insel leben keine Fischer, denn die Vögel kennen keine Angst vor Menschen und weit und breit findet sich nicht mal ein Trampelpfad.« Sie zog den Mundwinkel zu einem schiefen Grinsen hoch. »Hoffen wir, dass die Leute die Insel freiwillig verlassen haben und nicht gefressen wurden.«
*
Sabin fluchte, während sie sich gegen den Wind gelehnt an der Küste entlangkämpfte. Sie verfluchte den Wind, ihr eigenes Unglück und dieses Strohhut-Mädchen, das sich anmaßte, ihnen Befehle zu erteilen – eine Bäuerin, die auf dem Boot vor Angst fast gestorben war und sich nun benahm, als wäre sie die Herrin der Insel. Sie hatte das Mädchen mitgenommen, weil Tanijen ihr zugeredet hatte. Aber Tanijen hätte jedes Mädchen mitgenommen, das nicht aussah wie ein Snai! Und diese… Amber sah aus, als könnte sie einer Mähnenschlange mit einem Griff das Genick brechen und dabei noch freundlich lächeln.
Sabin strich sich die Locken hinter das Ohr und betrachtete nervös die Küstenlinie. Seit mehr als einer Stunde war sie unterwegs, aber sosehr sie auch suchte, hier gab es weit und breit keine Fischer. Keine lebende Seele, nicht einmal Tiere. Nur seltsame Pflanzen in der Nähe der Küste: schwarzviolette Farne, die sich im Wind bogen wie lebendige Wesen und sich einrollten, sobald Sabins Fuß sie berührte. Sie hatte nach Spuren gesucht, aber der Wind verwischte sogar ihre eigenen Fußspuren auf dem sandigen Untergrund, kaum, dass sie einen Schritt gemacht hatte. Und nun, als sie auf einer Kuppe stand, von der aus sie auch nur wieder zwei unbewohnte Landzungen sah, schnürte der Gedanke, sie könnten tatsächlich auf einer unbewohnten Insel gestrandet sein, ihr die Kehle zu.
Die Sucher aus Dantar werden uns finden, redete sie sich ein. Sumal wird sie beauftragen, und wenn nicht Sumal, dann die Navigatoren – sie werden Tanijen vermissen.
Sie schwankte im Wind, der sie von den Füßen zu holen drohte, stolperte ein paar Schritte zu einem der Marjulabäume und stützte sich mit der Hand an einem tief hängenden, dicken Ast ab. Diese Marjulabäume auf den Hängen in der Nähe der Küste sahen seltsam aus. Die windgebeugten Stämme und Äste waren ungewöhnlich dick, an manchen Stellen bauchig wie hölzerne Kokons, die etwas bargen, was das Tageslicht nicht sehen sollte. Das Holz fühlte sich kühl an und unter der Rinde nahm Sabin plötzlich eine Bewegung wahr. Angewidert zog sie die Hand zurück. Es mochte eine Raupe sein, die sich unter der Rinde ihren Weg freibohrte. Sabin trat einen Schritt zurück. Die Rinde… bewegte sich tatsächlich, so deutlich, als würde sich etwas durch das Holz in Richtung der Stelle vorarbeiten, wo es eben noch die Wärme ihrer Hand wahrgenommen hatte! Der Wind trug ihr den Geruch von Froschlaich, Tang und Fischblut zu.
Hastig stolperte sie nach hinten und hätte um ein Haar das Gleichgewicht verloren. Über ihr wölbte sich dieser seltsame Baum wie eine zum Bersten pralle, schwankende Hülle. Sabin drehte sich um und rannte. Der verhasste Wind trieb ihr Tränen in die Augen, zumindest redete sie sich ein, dass es der Wind war. Er stieß sie hin und her, ließ sie stolpern und ihre Schritte unsicher werden und verwandelte das Meer in einen trostlosen grauen Mantel, unter dem sich alle Schönheit
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