Die Sturmrufer
Nicht hier.
»Schön, dass auch du den Seilerkodex begriffen hast«, erwiderte er ruhig.
Vogelschwingen rauschten auf. Ein Dutzend Vögel hatte sich auf dem morschen Dach des Turms niedergelassen. Weiß, mit fein gemusterten schwarzen Linien, die die Ränder der Federn nachzeichneten. Sie hatten schwarze Schnäbel, die für Inus Geschmack viel zu spitz waren.
»Hast du schon mal solche Vögel gesehen?«, fragte Tanijen.
»Du bist der Navigator«, erwiderte Inu grober als beabsichtigt. »Du musst die Küstenvögel kennen. Und du müsstest wissen, was für eine Insel das ist.«
»Ich weiß es aber nicht!«, brauste Tanijen auf. Nun funkelten seine Augen vor Ärger. »Ich brauche Instrumente oder wenigstens ein paar Sterne am Himmel, ist das für einen Seiler so schwer zu verstehen?«
»Ach, hilft dir hier deine ganze gesammelte Weisheit aus der Navigatorengilde nicht weiter?«, spottete Inu. Tanijen wurde blass vor Wut.
»Übertreib es nicht, Inu«, zischte er. »Du hast keine Ahnung, was…«
Ein wütender Schrei, gefolgt von einem hässlichen Poltern zuckte durch jede Faser von Inus Körper. Amber!
Die Vögel flatterten hoch und flohen in Richtung Meer.
»Zum Turm!«, rief Tanijen. »Der Schrei kam aus dem Turm!«
*
Inus Schritte auf der Treppe schreckten Staubgespenster auf, die sich im Zwielicht erhoben. Papier verhedderte sich um seinen Fuß. Sonnenstrahlen legten Schleier aus Licht auf die Flure und in die Kammern. Immer noch klappten die Läden der Galeriefenster auf und zu. Inu nahm die verlassenen Räume nur flüchtig wahr. Im Rennen erhaschte er einen Blick durch eine zerbrochene Tür. Dahinter befand sich ein Schlafgemach mit einem Bett, dessen ausgebleichter Betthimmel mit verlassenen Vogelnestern übersät und fast bis zu der zerwühlten Bettdecke herabgesunken war.
Die Treppe, die in den Turm führte, war schmal, eine morsche Stufe brach unter Inus Gewicht und ließ Tanijen stolpern. Vor einer angelehnten Tür blieb Inu stehen. Holz brach im Raum, das Krachen war so laut, dass es die Treppe zum Beben brachte. Inu fasste den Kerzenleuchter, den er vorher von dem verstaubten Tisch gerissen hatte, mit beiden Händen wie eine Waffe und stürmte durch die Tür.
Wieder splitterte Holz, als er in etwas trat, das unter seinen Füßen nachgab. Erst dachte er an eine Falltür, aber als er das Gleichgewicht verlor und durch die Luft segelte, wurde ihm bewusst, dass es ein zertrümmerter Holzkäfig war. Schmerzhaft prallte Inu auf dem Boden auf, Staub nebelte ihn augenblicklich ein – er hustete und sah im ersten Moment gar nichts. Erst als der Staub sich lichtete, erkannte er, wo er sich befand: in einem achteckigen Turmzimmer voller Käfige – großen und kleinen, eckigen und runden. Sie hingen von der Decke und standen an den Wänden. Die hängenden Käfige schaukelten, eiserne Türchen gingen auf und zu, auf und zu. Diese Bewegung versetzte die Käfige offenbar in Schwingung. Die Tür eines großen Käfigs wimmerte bei jeder Bewegung wie ein weinendes Kind.
»Amber!«, hörte er Tanijens erschrockene Stimme.
Das Mädchen lag ausgestreckt auf dem Boden. Ein Balken hatte sie unter sich begraben. Inu rappelte sich auf und stürzte zu ihr. Gemeinsam mit Tanijen hob er das Holz an. Polternd rollte der Balken zur Seite. Mit klopfendem Herzen ließ sich Inu neben Amber nieder, kauerte sich ganz dicht neben sie und stellte gleich darauf erleichtert fest, dass sie atmete.
»Amber!«, flüsterte er und strich ihr behutsam über die Wange. Sie blinzelte. Staub hatte ihre Wimpern weiß gefärbt, eine Feder klebte an ihrer Stirn. In ihrem bleichen Gesicht flackerten ihre braunen Augen wie Lohfeuer.
»Spürst du etwas? Hast du Schmerzen?«
»Nein«, stöhnte sie. »Balken mit dem Rücken aufzufangen gehört zur Tagesarbeit eines Bauern.«
Inu war so verblüfft, dass es ihm die Sprache verschlug.
Tanijen lachte erleichtert auf. »Solange du noch Scherze machen kannst, bist du nicht ganz tot. Kannst du aufstehen?«
Amber bewegte die Beine und drehte sich mit schmerzverzerrtem Gesicht auf die Seite. Tanijen stützte sie und half ihr behutsam, sich aufzusetzen. Ihre Leinenhose war zerrissen. Eine hässliche Risswunde leuchtete über ihrem linken Knie.
»Ist es geflohen?«, sagte Amber.
»Was?«, fragte Tanijen.
»Das Ding, das mich angegriffen hat!«
Inu wechselte einen ratlosen Blick mit Tanijen. Er wusste, dass sie in diesem Moment dasselbe dachten: In den Raum führte nur eine Tür – und
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