Die Sturmrufer
verbarg. Nun warf er ihr auch noch Sand ins Gesicht. Sabin presste die Lippen zusammen und erreichte rennend den Strand.
Ihre Beine trugen sie ins Meer, in die Sicherheit. Erst als sie Wasser an den Füßen und Waden spürte, wurde sie etwas ruhiger. Ihre Gänsehaut war verschwunden, nun glühte und pochte das Blut durch ihre Wangen. Schwer atmend blickte sie sich um.
Links von ihr erhob sich eine Kette aus schwarzen Felsen. Und dazwischen erkannte sie etwas, was wie ein gebrochener Mast aussah. Sie watete noch tiefer ins Wasser und spähte durch die zwei Felsnadeln. Hinter diesem Wall strudelte und schäumte das Meer. Der Anblick war atemberaubend: Schiffe! Zerfallene Galeeren und Koggen, kleine Zweimaster und ein bauchiges Paradeschiff lagen dort wie die Skelette gestrandeter Meeresungeheuer.
Sabin watete zwischen die Felsen und betrat das strudelnde Wasser. Der vertraute Sog wollte sie ins Meer ziehen, aber noch stemmte sie sich dagegen und arbeitete sich zu den Schiffen vor. Ein neuer Gedanke nahm in ihrem Kopf Form an: Selbst wenn die Insel unbewohnt war, gab es immer noch die Boote, und mehr als ein Boot brauchten sie nicht. Vielleicht würde schon ein Floß genügen. Sie musste so schnell wie möglich nach Dantar zurück! Seit sie die Nachricht aus den Bergen erhalten hatte, konnte sie keine einzige Nacht mehr schlafen, ohne aufzuschrecken und den Schiffsfriedhof vor sich zu sehen. Sabin rieb sich die Augen und fluchte. Nicht heulen!, schalt sie sich. Nicht schon wieder! Alles, was zählt, ist, dass du zurück nach Dantar kommst. Denk nach! Such ein Boot! Einen Augenblick widerstand sie der Versuchung, einfach loszuschwimmen und sich den Weg über Untiefen und an Strudeln entlang selbst zu suchen.
Ganz am Rand einer kleinen Bucht entdeckte sie endlich ein kleineres, schmales Schiff, das sich an einen Felsen lehnte wie ein müder Wanderer.
Ein Mast war gebrochen, aber im Gegensatz zu den alten Wracks war der Rumpf noch dunkel und glänzte. Die Flut umspülte das Heck. Seepocken und Sichelschnecken hatten das Schiff besiedelt, aber das Holz schien noch nicht morsch zu sein. Trotz der abgeblätterten Farbe war sogar noch der Name zu erkennen: »Timadar« – »Tänzerin«. Hinter der Inschrift war das Wappen von Dantar aufgemalt: zwei graue Wale im Sprung mit gekreuzten Fluken. Sabin biss sich auf die Lippen und schluckte den Kloß in ihrem Hals hinunter. Sie rannte an Land und ging um das Boot herum. Keine Schäden am Bug!
Entschlossen streifte sie sich eine ihrer Taucherbrillen über und betrat das Meer wieder wie ein vertrautes Heim. Kühle Wellen leckten über ihre Füße und ließen Meerschaum zwischen ihren Zehen zurück. Sabin atmete durch und watete bis zu den Hüften ins Wasser. Diesen Augenblick liebte sie am meisten: das Eintauchen, den Moment, wenn ihr Körper alle Schwere verlor. Es war wie Fallen, nur ohne Angst.
Schäumendes Wasser gluckste am Bootsrand und zog sie sofort in die Tiefe. Das Geräusch des Windes brach ab, nur das Flüstern des Ozeans umgab sie nun. Sie tastete sich am Rumpf entlang bis zum Ende des Hecks, das tief im Wasser lag, prüfte das schmale Leck unter der Wasserlinie und die Stabilität der Spanten. Wolken von Sand wirbelten ihr entgegen, dann wurde das Meer klarer. Direkt hinter dem Heck gähnte ein unglaublicher Abgrund, an dessen Grund sie die bleichen Finger von Korallen erahnte und das Schimmern von Fischleibern. Tatsächlich – da waren wieder diese schnellen Fische, die sie heute Morgen bereits entdeckt hatte. Sie waren schlank, ihre Seitenflossen waren noch länger als die der fliegenden Fische, die Sabin kannte. Sie bewegten sich rasch, ruderten mit den Flossen wie Schildkröten durch das Wasser, änderten blitzartig die Richtung und verschwanden in der Tiefe. Und noch weiter unten in dem dunkelblauen Wasser glaubte sie schemenhaft das Gesicht eines Naj zu erahnen, der sie mit dieser milden, hochmütigen Neugier musterte.
Sabin lächelte, stieß sich von der Felskante ab und ließ sich einfach sinken. Und wie immer, wenn sie unter Wasser die Augen schloss und die Hand ausstreckte, glaubte sie Satus Gegenwart zu spüren. Sein Haar strich über ihre Hand und sie war sicher, dass sie gleich sein Gesicht sehen würde, das dem ihren so ähnlich war. Doch wie jedes Mal, wenn sie die Augen öffnete, war sie allein im Meer. Ihr Bruder war tot – und Sabin einsamer als alle Wesen.
*
Sie wusste nicht, wie lange sie sich hatte treiben lassen. Auf jeden Fall
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