Die Sturmrufer
zwanzig mittelgroße Mähnenschlangen. Inu schlich zur Tür, löste die Knoten, hob die Riegel an und stahl sich auf den Hof hinaus.
Der Sturm war vorbei, doch die Zahl der Vögel hatte sich um ein Vielfaches vergrößert. Inzwischen mussten es weit über hundert sein, die sich im Hof drängten. Ihr fahles Leuchten spiegelte sich in der schwarzen Oberfläche des Tümpels. Magische Vögel. Inu lief ein kalter Schauer über den Rücken und er betrachtete sie sehr genau und mit klopfendem Herzen. Der Tümpel und die Käfige. Die Käfige und die Vögel. Alle drei gehörten zusammen. »Was habt ihr mit dem Wasser zu tun?«, murmelte Inu, während er das Becken umrundete. »Worauf wartet ihr?«
Er beugte sich über den schwarzen Spiegel. Vorsichtig zog er das Stück Rinde von einem der Haken, die an seinem Gürtel hingen, und befestigte ihn an dem Seil. Der Haken war schwer, er musste beim Tauknüpfen auch schwere Seile ausbalancieren. Als provisorisches Lot würde er ausreichen. Und schon verschwand der Haken, ohne mehr als einen Ring auf der Wasseroberfläche zu hinterlassen. Das Metall begann dem Grund entgegenzusinken. Hand über Hand ließ Inu das dünne Seil durch die Hände gleiten. Es wurde immer schwerer, je mehr Wasser sich in die Fasern sog. Würde es lang genug sein, um den Tümpel auszuloten? Konzentriert ließ er die letzte Handbreit ins Wasser sinken und hätte am liebsten gejubelt. Das Seil gab nach! Die Straffheit verschwand, der Haken, der als Senkblei diente, hatte irgendwo aufgesetzt. Inu hielt die Luft an und zählte in Gedanken noch einmal jeden Handbreit nach. Dreiundzwanzig Längen. War er jemals so tief getaucht?
Ein kaum merkliches Vibrieren ließ die Wasseroberfläche beben. Kein Zweifel – etwas regte sich im schwarzen Wasser, als hätte es Inus Ungeduld gespürt.
»Du bist da unten«, murmelte Inu. »Aber was bist du?«
Das Murmeln in seinem Kopf schwoll an. Es war, als würde jemand durch Wände hindurch versuchen mit ihm zu sprechen. Nur wenn er die Augen schloss, konnte er Wortfetzen erahnen.
Tief… geworfen… die…rufer… bin hier…
Dann wurde es stiller um ihn als je zuvor. Inu lauschte so angespannt, dass sein Nacken schmerzte, aber er hörte nichts mehr. Nach einer Weile zog er an der Schnur und hätte vor Schreck beinahe aufgeschrien. Etwas ruckte am Seil! Die Ringe tanzten wieder über die Wasseroberfläche, wurden zu Wellen, die an das steinige Ufer liefen und sich nur langsam beruhigten. Es war, als hätte sich tief unten etwas in seinem steinernen Bett umgedreht. Die Vögel trippelten nervös hin und her und legten die Köpfe schief. Einer flatterte mit den Flügeln. Inus Mund war plötzlich so trocken, dass er schlucken musste. Noch einmal verstärkte er behutsam den Zug am Seil. Etwas löste sich vom Grund, er spürte es genau in seinen Fingerspitzen. Dann lag das Seil tot und schwer in seiner Hand.
…rufer… Nacht mit den…
Eine Brise strich an seinem Ohr vorbei und stahl ihm die Worte. Einige Vögel flatterten hoch. Inu fluchte und begann in fieberhafter Hast das Seil einzuholen. Der Wind wurde stärker, Inu spürte, wie er an seinen Haaren zerrte. Eine Vogelschwinge streifte seinen Nacken. Hand über Hand holte er das Seil hoch, voller Furcht und gleichzeitig voller Hoffnung, gleich den Haken zu sehen – und das, was am Haken hing.
Einundzwanzig Längen… zweiundzwanzig.
Die Vögel flohen in den Nachthimmel. Inu verlor fast das Gleichgewicht, als er das letzte Stück Seil aus dem Wasser holte. Der Haken schnellte in die Luft und gab seine Beute frei. Für einen endlos scheinenden Augenblick drehte sich etwas in der Luft, löste sich vom Haken – und fiel.
Inu dachte nicht mehr nach. Er spürte den Haken nicht, der über seinen Unterarm schabte, er sah nur noch den länglichen roten Gegenstand. Er würde ihn verlieren! Der Gegenstand traf auf dem Wasser auf und begann zu versinken. Inu sprang.
Das Wasser war so kalt, dass es in seine Haut biss, in die Wangen und die Beine, und brachte ihn für einen Augenblick zur Vernunft. Schwarz schloss es sich um ihn. Unter seinen Füßen fühlte er die Tiefe wie ein gieriges Maul, das nur darauf wartete, ihn zu verschlingen. Der Instinkt, den roten Gegenstand sinken zu lassen und einfach nur zu fliehen, brannte in jeder Muskelfaser. Hektisch fuhr er mit den Armen durch die Schwärze, tauchte, tastete weiter. Dann bohrte sich ein scharfer Schmerz in seine Hand.
Inus Schrei löste sich in einem Schwall von Luftblasen
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