Die Suche nach dem Wind
Er warf ihr einen ironischen Seitenblick zu. »Ich weiß, dass Sie weder von Duncan noch von mir viel halten. Gestehen Sie uns doch zumindest zu, dass wir unsere Position nicht nur innehaben, weil es gerade keine anderen Bewerber um die freien Stellen gab. Von Gandar wird immer getreu seinem Ringlord-Eid handeln. Den erzwungenen Schwur musste er brechen, um seine Frau zu schützen, die bei dem großen Brand ihr Leben verlor, als sie Rhan-Kinder rettete. Es gibt nicht nur gute Rhan und böse Marú, Erma, genauso, wie es nicht nur schwarz oder weiß gibt. Es gibt viele Grautöne.«
»Das habe ich längst begriffen«, erklärte sie leise. »Obwohl Sie meine Aussagen in dieser Angelegenheit fürchten mussten, haben Sie mir im Sumpf das Leben gerettet. Erik will trotz seiner Anlagen unbedingt den Höhlenkindern helfen, und sein geächteter Vater zögert genau wie Sie nicht, sein Leben für die hiesigen Bewohner aufs Spiel zu setzen. Ich war völlig verblendet. Es tut mir leid. Ich habe so törichte Dinge gesagt und ...«
»Vergessen Sie es einfach«, unterbrach er sie. »Das ist alles nicht mehr wichtig. Es gibt aber etwas, was mir wichtig ist.« Er blieb stehen und sah sie an.
Erma verlor sich in seinem Blick und ihr Herz machte einen Sprung. Vom ersten Augenblick an hatte sie sich von ihm angezogen gefühlt, hatte sich gescholten dafür, dass sie offensichtlich genau wie all die blöden Weibchen auf sein Äußeres hereingefallen war, und hatte ihn wegen ihrer Gefühle verabscheut. Wäre er der oberflächliche Schönling, für den sie ihn gehalten hatte, gewesen, hätte er ihrer Kariere nicht im Weg gestanden. Aber, während sie ihn auf dieser grässlichen Reise begleitet hatte, der ihn vors Tribunal und sie auf die Gästeliste der vornehmen Rhan gebracht hätte, hatte sie sich verliebt. Sie sah hoch, schaute in seine Augen und hoffte wie irrsinnig auf eine Liebeserklärung. Was sonst sollte schließlich noch wichtig sein? Sie erkannte ihre eigene Stimme kaum wieder, als sie bat: »Sprecht Euch aus! Was ist Euch wichtig?«
»Erik ist ein feiner Junge mit großen Gaben. Ich weiß, dass das viel verlangt ist, aber könnten Sie mir versprechen, sich notfalls um ihn zu kümmern? Er darf nicht auch noch hoffnungslos veralteten Regeln zum Opfer fallen. Da der Rhanlord weiß, wer er ist, wird es Ihnen nicht möglich sein, ihn zu schützen. Bringen Sie ihn bitte zu meiner Großmutter. Sie wird ihn gut unterbringen können. ... Oh, Erma, sehen Sie mich doch nicht so entsetzt an!«
Die Wirklichkeit hatte sie wieder. »Ich soll mich um Erik kümmern? Sie denken also, dass Sie und Duncan hier sterben werden?« Ihre Stimme war kaum zu hören.
»Nein, das denke ich nicht! Ich beziehe nur gern alle Alternativen in meine Überlegung ein.« Er zwinkerte ihr zu. »Es soll ja schon häufiger vorgekommen sein, dass man vor dem Beginn des Kampfes noch nicht wusste, wer ihn gewinnen wird. Geben Sie mir das Versprechen ... nur für den Fall der Fälle?«
Sie schluckte schwer und nickte schließlich beklommen. »Ich gebe Ihnen mein Wort. Glauben Sie, dass Sie überhaupt eine Chance haben gegen Karon?«
»Eine Chance hat man immer.«
»Ich bin kein Kind. Ich möchte keinen Trost, ich möchte die Wahrheit hören.«
»Die Wahrheit, Erma? Die Wahrheit ist, dass ich es nicht weiß. Ich bin mit Ihnen zusammen hier angekommen. Ich weiß nicht, wie viele Wölfe oder Seelenlose es gibt. Ich weiß auch nicht, wie stark Karon ist. Ich weiß nicht viel mehr als Sie. Wir werden sehen.«
11. Kapitel
Am Nachmittag nahm Duncan sich Zeit, um mit seinem Sohn zu sprechen. Der Wohnraum des Ringlords wirkte genauso unpersönlich wie sein Bewohner. Neben einem Bett beherbergte er lediglich Tisch und Stühle.
Auf eben diesen Stühlen saßen sie sich jetzt gegenüber.
Erik erzählte von Leona und Waldsee. Am meisten erzählte er aber von seinen Freunden und von Aeneas. Dabei warf er seinem Vater immer wieder scheue Blicke zu, denn dessen Zwischenfragen waren sachlich, humorlos und häufig mit einem tadelnden Unterton versehen.
Das Gespräch verlief ausgesprochen hölzern, und Erik kam sich bald vor wie in einer mündlichen Prüfung und bekam feuchte Hände. Ein Vater-Sohn-Gespräch hatte er sich anders vorgestellt.
Duncan bemerkte schnell, dass sein Sprössling immer überlegte, was er sagte und wie er es sagte. Die Vertrautheit, die Offenheit und die Lockerheit, die er seinem Vormund gegenüber an den Tag legte, fehlten völlig. Statt witzige
Weitere Kostenlose Bücher