Die Sünde der Brüder
einfach verschwinden!
Er trat verstohlen in die separate Seitenkapelle, doch es war niemand dort. Eine einzelne Kerze brannte vor der Statue auf dem Altar, einer audruckslosen Gestalt mit ausgebreiteten Händen - Christus, der Fürbitter, hatte Olivia, so glaubte er, gesagt. Doch im Moment akzeptierte er jede Hilfe, die er bekommen konnte.
»Äh … vielleicht könntest du mir ja zur Hand gehen?«, flüsterte er, weil er kein offizielles Gebet für diesen Zweck kannte. »Bitte?« Mit einem höflichen Kopfnicken zog er sich zurück und setzte seine Suche fort. Diesmal ging er durch das Hauptschiff zur Tür zurück. Was, wenn sie vorgehabt hatte hinauszugehen, aber von irgendetwas überwältigt worden war?
Im Vorübergehen suchte er verstohlen die Bänke ab. Hatte sie sich einfach nur zu ihren Freundinnen gesetzt? Doch wieder erntete er lediglich verwunderte Blicke. Dann stand er erneut vor der Tür zum Vestibül und zögerte, weil er nicht wusste, wo er weitersuchen sollte. Ob es göttliche Fügung war oder Glück - an diesem Punkt erspähte er eine kleine Holztür, die unauffällig in den Schatten unterhalb der Orgelempore eingelassen war.
Er versuchte, sie zu öffnen, stellte fest, dass sie nicht verschlossen war, drückte sie vorsichtig nach innen - und sie blieb auf halbem Wege stecken. Gerade war er im Begriff, ihr einen kräftigen Schubs zu versetzen, als er den Fuß sah, der dahinter hervorlugte. Er war mit einem zitronengelben Seidenschühchen bekleidet.
»Olivia!« Er schob den Kopf durch die Öffnung und sah, dass seine Cousine auf der unteren Stufe einer kleinen Treppe hockte wie ein unordentlicher zitronengelber Wäscheberg. Als sie ihn sah, zog sie den Fuß beiseite, sodass er durch die Tür schlüpfen konnte.
»Olivia! Fehlt dir etwas?«
»Nein!«, zischte sie. »Sei um Himmels willen leise, John!«
»Soll ich dir jemanden holen?«, flüsterte er und beugte sich über sie, um sie näher zu betrachten. In der Kammer gab es nicht viel Licht, nur das bisschen, das von der Empore über die Wendeltreppe nach unten fiel. Da dieses Licht zudem durch ein Buntglasfenster fiel, war es in den zartesten Farben getönt, und die Rauten aus Blassrosa, Blau und Gold verliehen Olivia das Aussehen, als säße sie am Fuß eines Regenbogens.
»Nein, nein«, versicherte sie ihm. »Ich habe mich nur müde gefühlt und wollte mich ein wenig hinsetzen.«
Er warf einen skeptischen Blick auf die Umgebung, in der sie sich befanden.
»Und da hast du beschlossen, dich lieber hier hinzusetzen als auf eine Bank? Aha. Soll ich dir etwas Wasser holen?« Die nächste Wasserquelle war wahrscheinlich das Taufbecken, und das einzige Gefäß zum Transport war sein Hut, den er zufällig mitgenommen hatte. Dennoch -
»Ich brauche kein -« Sie brach ab und krümmte ein wenig den Rücken, während sie Augen und Lippen fest schloss. Sie griff hinter sich und drückte sich die Faust ins Kreuz. Ihr Gesicht war wieder dunkelrot geworden, das konnte er trotz des schwachen Lichtes sehen.
Am liebsten wäre er in die Kirche zurückgeeilt, um eine Frau zu holen, doch er hatte Angst, sie mitten in diesem Krampf
alleinzulassen. Es war nicht das erste Mal, dass er mitbekam, wie eine Frau ein Kind bekam - Soldatenfrauen oder Frauen aus dem Tross -, doch er hatte es noch nie hautnah erlebt. Allerdings hatte er den Eindruck, dass es stets unter großem Geschrei vor sich ging; Olivia schrie nicht. Noch nicht.
Sie atmete mit gespitzten Lippen aus, entspannte sich und öffnete die Augen wieder.
»Wie lange machst du… das schon?« Er wies geziert auf ihren Kugelbauch. Nicht, dass ihm die Antwort weitergeholfen hätte; er hatte keine Ahnung, wie lange eine Geburt dauern sollte.
»Erst seit heute Morgen«, beruhigte sie ihn. Wieder verzog sie das Gesicht und drückte die Hand gegen ihr Kreuz. Er wünschte, sie würde das lassen; sie hatte größte Ähnlichkeit mit den steinernen Wasserspeiern draußen auf dem Kirchengiebel. »Keine Sorge, jeder sagt, beim ersten Kind dauert es eine Ewigkeit. Manchmal sogar tagelang«, fügte sie hinzu und atmete laut keuchend aus.
»Ich glaube, diesen Gedanken fände ich an deiner Stelle nicht sehr ermutigend.« Er wandte sich ab und berührte die Tür. »Ich werde jemanden holen.«
»Nein!« Sie sprang auf, was ihn extrem überraschte, da er nicht gedacht hatte, dass sie sich überhaupt bewegen konnte, und erst recht nicht so schnell. Sie klammerte sich mit aller Kraft an seinen Arm. » Nichts wird diese
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