Die Sünde der Brüder
fasziniert. »Hast du der Sache ein Ende gesetzt?«
Hal warf ihm einen finsteren Blick zu, dann hustete er.
»Indirekt«, sagte er und sprach hastig weiter. »Rigby gehörte damals zu Walpoles Anhängern; Walpole hat Mutter persönlich besucht - sehr gütig von ihm; alles wäre noch viel schlimmer gewesen, wenn er nicht solch offenkundiges Interesse an ihr gezeigt hätte - und er hat ihr oft seinen Sekretär und seine Adjutanten geschickt, weil er aus gesundheitlichen Gründen nicht mehr ausgehen konnte. Ich glaube, dass Rigby Mutter auf diesem Wege kennengelernt hat.«
»Und Longstreet?«
»Mach dir seinetwegen keine Gedanken«, sagte Hal knapp. »Um ihn kümmere ich mich schon selbst.«
»Diese Bemerkung über Hornissennester …«
»Genau. Halte dich von ihm fern.«
Das war offensichtlich alles, was er über Longstreet zu hören bekommen würde, zumindest vorerst. Grey ließ das Thema fallen und wandte sich wieder der allgemeinen Situation zu.
»Erscheint sie dir irgendwie plausibel«, fragte Grey. »Mutters Theorie?«
Hal zögerte, dann nickte er.
»Ja«, sagte er, »aber nur, wenn Mutter tatsächlich etwas weiß, das irgendjemandem schaden könnte.«
»Oder wenn dieser Jemand glaubt, dass sie etwas weiß. Aber was kann sie denn wissen?«, fügte Grey hinzu. »Was könnte so gefährlich sein, dass es einen solchen Hokuspokus rechtfertigt?«
Hal schüttelte den Kopf.
»Ich kann mir nicht vorstellen, dass sie irgendwelche konkreten Beweise besitzt. Wenn es so wäre, hätte sie sie doch zur Zeit des … des Skandals vorlegen können. Das Einzige, was sie wissen könnte, wäre die Identität von jemandem, der damals nicht nur Jakobit war, sondern gleichzeitig eine wichtige Stellung bekleidete - und es wahrscheinlich auch heute noch tut.«
Das klang plausibel. Die anti-jakobitische Stimmung war zwar in den Jahren nach Charles Stuarts Niederlage erloschen, doch jemanden des Jakobitismus zu bezichtigen war in der Hand eines Politikers oder der Presse immer noch ein wirksamer Teerpinsel.
»Longstreet hätte damals wie heute Schaden nehmen können, wenn man ihm mit Enttarnung gedroht hätte«, sagte Grey. »Was ist mit Hauptmann Rigby?«
Bei dieser Frage lächelte Hal tatsächlich.
»Er wahrscheinlich auch«, sagte er. »Derzeit ist er der Leiter des Hospitals für Findelkinder.« Er faltete noch einen Spruch auseinander, lachte und las ihn laut: » Eine Schlussfolgerung ist einfach nur der Punkt, an dem man zu müde zum Weiterdenken wird .«
Grey lächelte und stand auf.
»Dann haben wir wohl vorerst eine Schlussfolgerung erreicht. Wirst du mir erzählen, was du in Bezug auf Longstreet herausfindest?«
Irgendetwas flackerte in den Augen seines Bruders auf, doch es war schon wieder verschwunden, bevor Grey es interpretieren konnte.
»Ich werde dir alles erzählen, was du wissen musst«, sagte Hal. »Bis dahin… hast du nichts anderes zu tun?«
»Doch«, sagte Grey und ging. In seiner Hand verborgen trug er den letzten Zettel, den er aus dem Automatenbehälter gezogen hatte. Der Mensch, den du liebst, ist näher als du denkst , stand dort.
Noch sechs Tage bis zur Hochzeit. Vier Tage - vielleicht fünf - bis zu Percy Wainwrights Rückkehr aus Irland.
Hal hatte nicht gescherzt, als er gesagt hatte, er würde ihm keine Zeit zum Schlafen lassen. Grey konnte spüren, wie sich das Regiment aus dem Winterquartier zu erheben begann und sich an die Vorbereitungen für den Krieg machte wie ein Bär, der den Winterschlaf abschüttelt und dann allmählich Appetit bekommt. Und genau wie Bären musste man auch Männer satt bekommen.
Anders als Bären musste man sie außerdem bekleiden, einquartieren, bewaffnen, ausbilden, disziplinieren und von einem Ort zum nächsten befördern. Und dann gab es natürlich noch die Militärhierarchie, eine vielköpfige Bestie, die ihrerseits unersättlich war.
Greys Tage waren ein einziger hektischer Wirrwarr - er eilte von Whitehall zur Transportbehörde, hielt täglich Kriegsrat mit den anderen Offizieren, erhielt und studierte täglich Berichte von seinen Hauptmännern, schrieb seine eigenen Tagesberichte für die Obersten, las Befehle, verfasste Befehle, legte eilig seine Paradeuniform an und hastete hinaus, um auf ein Pferd zu springen und seinen Platz an der Spitze einer Kolonne einzunehmen, die unter dem Jubel der Menschen Londons mit der Guildhall-Parade durch die Straßen marschierte, warf die Zügel einem Stallknecht zu und bürstete sich unterwegs in der
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