Die Sünde der Brüder
Gesicht. Natürlich, so rief er sich ins Gedächtnis, war das etwas anderes; der General war ja nicht Percys leiblicher Vater. Er konnte sich ohne Hemmungen vorstellen… diesen Gedankengang erstickte er im Keim und richtete die Augen fest auf Percy, um nicht das Hochzeitspaar anzustarren.
Das Licht, das durch eines der Buntglasfenster fiel, fing sich in einigen dunklen Bartstoppeln, die er bei der Rasur verfehlt hatte. Durchleuchtete die bernsteinfarbene Iris seiner Augen und tauchte seine Haut in Rosa und Gold.
Er hoffte aufrichtig, dass sein neuer Bruder nicht dachte … Percy blickte plötzlich zur Seite und sah ihn direkt an. Grey holte tief Luft und wandte den Kopf ab, zu einem Buntglasfenster, das den Heiligen Laurenz zeigte, der auf einem Eisengitter geröstet wurde.
Sie standen so dicht nebeneinander, dass sich ihre langen Rockschöße berührten. Er spürte eine Bewegung unter den Falten aus blauem Samt, und Percys Hand berührte die seine.
Nicht mehr als eine Berührung, doch er atmete tief durch, und seine Verlegenheit wich einem neuen Bewusstsein.
Heute Nacht .
Sie hatten einen feierlichen Pakt geschlossen, er und Percy. Nach dem Hochzeitsempfang würden sie gehen und den Rest des Tages - und die Nacht - zusammen verbringen, und nichts würde sie daran hindern.
Grey krümmte einen Finger, um ihn ganz kurz um Percys Finger zu legen, dann ließ er los. Er begriff, dass sich seine Gedanken weit jenseits dessen bewegten, was in einer Kirche angebracht war, und er versuchte, sich erneut auf das feierliche spirituelle Ereignis zu konzentrieren, das sich vor seinen Augen abspielte. Warum die Kirche allerdings Sätze wie »mein Körper
soll das Werkzeug meiner Liebe sein« in den Gottesdienst eingebaut hatte …
Sein Blick fiel auf Olivia, die das Geschehen diskret hinter einer der schlanken Steinsäulen verfolgte - viel zu schlank, um ihre derzeitigen gewaltigen Proportionen zu verbergen. Er lächelte, dann bemerkte er, dass ihr Gesicht blass war und sich zu einer schmerzverzerrten Grimasse verzogen hatte. Gewiss erinnerte sie sich an ihre eigene Hochzeit und hatte Sehnsucht nach Malcolm, dachte er mitfühlend.
Es konnte durchaus noch zwei Jahre dauern, bis der tapfere Hauptmann Stubbs zurückkehrte, und bis dahin würde sein erstes Kind -
Olivias Grimasse verstärkte sich, und ihr Gesicht wurde dunkelrot. Grey legte plötzlich betroffen die Hand auf die Lehne der Bank, und Percy sah ihn verwundert an. Grey hob das Kinn, um ihn auf Olivias alarmierendes Verhalten aufmerksam zu machen, doch die Säule und eine hölzerne Trennwand verstellten Percy den Blick. Er warf Grey ein fragendes Stirnrunzeln zu, und Grey beugte sich ein wenig vor, um zu sehen, ob - doch Olivia war verschwunden.
Der Bischof hielt in aller Seelenruhe einen Vortrag über den heiligen Stand der Ehe, und es sah ganz so aus, als wäre das Ende noch lange nicht in Sicht. Grey versuchte, eine der Frauen auf der anderen Seite des Mittelgangs auf sich aufmerksam zu machen, indem er mit dem Kopf ruckte und seinerseits Grimassen schnitt, doch die einzige Reaktion, die er damit erntete, war das fragende Stirnrunzeln der betagten Havisham-Schwestern und ein koketter Blick, den ihm Lady Sheridan hinter ihrem Fächer zuwarf.
»Was ist denn?«, flüsterte Percy.
»Weiß nicht.« Sie konnte ja wohl kaum in Ohnmacht gefallen sein, ohne dass es irgendjemand bemerkte. Am Ende war sie nur ins Freie gegangen, um frische Luft zu schnappen?
»Vielleicht gar nichts. Bleib hier«, flüsterte er zurück. Dann schlüpfte er an Percy vorbei, verließ die Bank so lautlos wie möglich und schritt hastig durch den Seitengang. Dabei hielt
er den Kopf gesenkt und presste sich den Handrücken vor den Mund, als sei ihm nicht gut.
Er erreichte das Vestibül und drückte die schwere Außentür auf, was verfrühte Hurra-Rufe und lautes Schwerterklirren der wartenden Ehrengarde auslöste, die abrupt Haltung annahm und einen Durchgang für das glückliche Paar bildete.
Grey verzog das Gesicht zu einer - hoffentlich - entschuldigenden Miene und winkte den indignierten Schwertträgern mit einer Geste ab. Dann schloss er hastig die Tür vor ihren mürrischen Flüchen.
Seinerseits fluchend kehrte er in die Kirche zurück und nahm diesmal den Gang auf der rechten Seite. Dabei warf er flüchtige Blicke in den Alkoven mit dem Taufbecken und zu den dicht besetzten Emporen hinauf - zum Kuckuck, eine hochschwangere Frau konnte doch mitten in einer vollbesetzten Kirche nicht
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