Die Sünde der Brüder
Sorgfalt.
»Darf ich Euch eine Frage stellen, Mr. Fraser?«
»Ich wüsste nicht, wie ich Euch daran hindern könnte, Major.« Doch der Klang dieser Worte war nicht schneidend, und Frasers Augen leuchteten so, wie sie es bei ihren gemeinsamen Schachpartien getan hatten. Argwöhnisch, neugierig - und auf alles gefasst.
»Wenn ich Euch ausdrücklich von dieser Klausel befreien würde - und jeden Brief, den Ihr versenden möchtet, weiterleiten würde, ohne weitere Fragen -, wärt Ihr dann in der Lage, mit jemandem in Verbindung zu treten, der die Namen prominenter Jakobiten in England kennen könnte? Es müsste jemand sein, der im Jahr 1741 aktiv gewesen ist.«
Er hatte Fraser noch nie mit offenem Mund gesehen, und das änderte sich auch jetzt nicht. Doch es war offensichtlich, dass der Schotte nicht entgeisterter hätte sein können, wenn Grey ihn plötzlich auf den Mund geküsst hätte.
»Das -«, begann er, dann brach er ab und schüttelte den Kopf. »Wisst Ihr -« Er hielt erneut inne, denn diese Frage widerte ihn so unübersehbar an, dass ihm die Worte fehlten.
»Ob ich weiß, worum ich Euch bitte? Ja, das weiß ich, und ich bedaure es sehr.« Einen Moment herrschte Schweigen zwischen ihnen, unterbrochen vom Kauen der Pferde und dem Ruf einer frühen Lerche im Feld.
»Bitte glaubt mir, dass es mir nie in den Sinn käme, Euch so zu benutzen, wenn es eine andere Möglichkeit gäbe«, sagte Grey leise.
Fraser starrte ihn eine Sekunde an, dann stieß er die Mistgabel in den nassen Strohhaufen, machte kehrt und ging. In der zunehmenden Dämmerung ging er bis zum Paddock und blieb dort stehen. Er wandte Grey den Rücken zu und packte das obere Brett der Umzäunung, als versuchte er, die Wirklichkeit wieder in den Griff zu bekommen.
Grey machte ihm das nicht zum Vorwurf. Er kam sich selbst vollkommen unwirklich vor.
»Warum?«, fragte Fraser schließlich unverblümt und drehte sich um.
»Um der Ehre meines Vaters willen.«
Fraser schwieg einen Moment.
»Würdet Ihr meine gegenwärtige Lage als ehrenhaft bezeichnen, Sir?«
»Was?«
Fraser warf ihm einen wütenden Blick zu.
»Zu unterliegen - aye, das ist ehrenhaft, auch wenn ich es nicht darauf anlegen würde. Aber ich bin nicht nur der Unterlegene, nicht nur ein Gefangener, weil ich besiegt wurde. Ich bin im Exil, bin der Sklave eines englischen Herrn, gezwungen, den Willen meiner Kerkermeister zu tun. Jeden Tag denke ich beim Aufstehen an meine verstorbenen Brüder, meine Männer, die man aus meiner Obhut gerissen und der See und den Wilden ausgeliefert hat - und des Nachts lege ich mich in dem Bewusstsein nieder, dass mich nur der Zufall vor dem Tod bewahrt, weil mein Körper Euer unheiliges Verlangen erregt.«
Greys Gesicht war taub; er konnte die Bewegung seiner Lippen nicht spüren und war überrascht zu hören, dass seine Worte dennoch deutlich klangen.
»Es ist nie meine Absicht gewesen, Euch Eure Ehre zu rauben.«
Er konnte sehen, wie der Schotte mit aller Kraft seine aufsteigende Wut unter Kontrolle brachte.
»Nein, wahrscheinlich nicht«, erwiderte er gleichmütig.
»Ihr möchtet mich nicht vielleicht umbringen?«, fragte Grey so unbeschwert wie möglich. »Das würde mein augenblickliches Dilemma lösen. Und wenn Euch Euer Leben so sehr missfällt, wie es den Anschein hat, würde es Euch ebenfalls von dieser Last befreien. Zwei auf einen Streich.«
Mit verblüffender Geschwindigkeit hob Fraser einen Stein vom Boden auf und schleuderte ihn mit derselben Bewegung von sich. Es folgte ein Übelkeit erregendes Geräusch, und als er herumfuhr, sah Grey ein angeschlagenes Kaninchen mit krampfhaft zuckenden Beinen unter einem Busch liegen.
Fraser ging ohne jede Hast zu dem Tier hinüber, hob es auf und brach ihm mit einer gezielten Handbewegung das Genick. Dann kam er zurück und warf Grey den schlaffen Tierkörper vor die Füße.
»Tot ist tot, Major«, sagte er leise. »Daran ist nichts Romantisches. Und ganz gleich, was ich selbst zu diesem Thema empfinde, meine Familie würde meinem Tod nicht den Vorzug vor meiner Entehrung geben. Solange es noch jemanden gibt, der Anspruch auf meinen Schutz hat, kann ich über mein Leben nicht selbst verfügen.«
Dann schritt er in das kühle Zwielicht davon, ohne sich umzusehen.
Grey reiste am nächsten Tag aus Helwater ab. Er sah Fraser nicht wieder - versuchte es auch gar nicht -, trug aber am Vormittag einen Brief in den Stall. Er war verlassen; die meisten Pferde waren fort und die drei
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