Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Sünde der Brüder

Die Sünde der Brüder

Titel: Die Sünde der Brüder Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Diana Gabaldon
Vom Netzwerk:
er, stand kurz vor dem Ausrasten. Er hoffte, dass es nur seine Beherrschung sein würde, wenn es so weit war, und nicht der Hals eines anderen.
    Die Anspannung war nicht auf Grey beschränkt, ja, nicht einmal auf die Offiziere. Bei den Männern manifestierte sie sich als überschwängliche Erwartungsfreude, jedoch mit einem nervösen Unterton, der zu Streitereien und belanglosen Konflikten führte - es kam zu Handgreiflichkeiten, weil jemand Teile der Ausrüstung verlegt hatte oder sich eine Hure ausgeborgt hatte. Diese wurden zum Großteil ignoriert, von den Sergeanten ohne Umschweife beigelegt oder im Stillen unter den Betroffenen beendet. Doch manchmal ließ es sich nicht vermeiden, dass sie an die Öffentlichkeit getragen wurden.
    Zwei Tage bevor sie sich auf den Marsch zur Einschiffung in
Gravesend machten, wurden vier Kompanien auf den Platz beordert, um einer Bestrafung beizuwohnen. Das Verbrechen: Diebstahl. Die Strafe: einhundert Peitschenhiebe; Strafmaß durch den befehlshabenden Offizier auf fünfzig reduziert, um sicherzustellen, dass der Mann in der Lage sein würde, mit seinen Kameraden den Marsch anzutreten.
    Percy Wainwright war der verantwortliche Leutnant, der befehlshabende Offizier, auch wenn der Bestrafung wie immer mehrere ranghöhere Offiziere beiwohnten - darunter Grey.
    Er hasste diesen Vorgang, sah aber seine Notwendigkeit ein. Normalerweise stand er nur mit reglosem Gesicht da und richtete den Blick auf einen Punkt weit jenseits der Geschehnisse. Diesmal jedoch beobachtete er Percy.
    Alles verlief reibungslos. Percy schien seine Männer, die Situation und sich selbst gut im Griff zu haben. Und wenn seine Lippen weiß waren und er sichtlich schwitzte, war das nichts Bemerkenswertes bei einem jungen Offizier, der dieses Amt zum ersten Mal ausübte.
    Percys Augen waren fest auf das Geschehen gerichtet, und Grey musste seiner Blickrichtung unwillkürlich folgen. Die Bestrafung verlief relativ harmlos, auch wenn der Rücken des Mannes nach einem Dutzend Hieben mit blutigen Striemen überzogen war. Grey beobachtete den rhythmischen Schwung der Katze, hörte den Singsang des Sergeanten, der mitzählte, und begann mit einem plötzlichen Gefühl der Orientierungslosigkeit, jeden Hieb in seiner Magengrube zu spüren.
    Er unterdrückte den Impuls, die Augen zu schließen.
    Allmählich wurde ihm übel; die Überreste seines schwarzen Frühstückskaffees gärten in ihm und stiegen ihm in die Kehle. Er schwitzte und kämpfte mit der plötzlichen Illusion, dass es Regen war, der ihm über Gesicht und Hals lief.
    Seine Augen waren nach wie vor offen, doch was er sah, war nicht länger die Frühlingssonne auf dem Exerzierplatz oder der kräftige junge Soldat, der bei jedem Hieb stöhnend zusammenzuckte. Er stand auf dem grauen, steinernen Gefängnishof von Ardsmuir und sah glänzenden Regen über verkrampfte
Schultern laufen, sah ihn mit Blut vermischt durch die tiefe Furche auf Jamie Frasers Rücken rinnen.
    Er schluckte die bittere Galle herunter und richtete den Blick auf seine Stiefel. Stand schweigend da und atmete, bis es vorüber war.
    Der Mann wurde vom Holzgerüst losgebunden; seine Freunde halfen ihm zum Stabsarzt, der ihn mit Gänseschmalz und Holzkohle einrieb. Die Kompanien durften wegtreten und verließen den Platz geordnet und still, wie man es oft bei Männern sah, nachdem sie einer solchen Bestrafung beigewohnt hatten. Doch als Grey den Kopf wandte, um nach Percy zu sehen, war dieser verschwunden.
    Da er vermutete, dass Percy einen Moment lang für sich sein wollte - er hatte so ausgesehen, als stünde er kurz davor, sich zu übergeben -, machte Grey sich wieder an seine Arbeit, nahm sich aber vor, sich später beiläufig zu erkundigen, wie es Percy ging, und ihm nötigenfalls etwas zu trinken oder einen Rat anzubieten.
    An den üblichen Aufenthaltsorten eines Unterleutnants war Percy nicht zu finden. Er konnte doch nicht einfach nach Hause gegangen sein? Nicht, ohne jemandem Bescheid zu sagen, dachte Grey. Niemand konnte sich allerdings erinnern, ihn nach der Auspeitschung noch gesehen zu haben.
    Er musste noch eine Weile umherwandern und den Kopf hier und dort hineinstecken, bevor er Percy schließlich in einem der Lagerschuppen hinter dem Exerzierplatz fand, in dem Ersatzteile aufbewahrt wurden.
    »Fehlt dir etwas?«, erkundigte er sich, als er Percy auf einem Montageblock sitzen sah. Es war ein heller Tag, und zwischen den Brettern des Schuppens schien die Sonne hindurch, sodass sein

Weitere Kostenlose Bücher