Die Sünde der Brüder
ziemte.
»Ich glaube, sie wurden durch gewisse darin beschriebene Ereignisse inspiriert«, sagte Lady Joffrey umsichtig. »Der, ähm, Autor der Verse wünscht sie Monsieur Diderot als Anerkennung dieser Inspiration zum Geschenk zu machen, glaube ich - ein Tribut, wenn Ihr es so ausdrücken wollt.«
Er sah sie mit hochgezogener Augenbraue an und öffnete den Buchdeckel. » Einige Verse zum Thema der -«
»Himmel«, sagte er unwillkürlich und schloss das Buch. Sofort
öffnete er es wieder, vorsichtig, als fürchtete er, es könnte ihn anspucken.
» Von einem Bewunderer der Werke jenes großen Genius, Monsieur Denys Diderot, welcher sich ehrfürchtig ›Sub-Genius‹ nennt .«
»Ihr habt sie doch nicht selbst geschrieben, oder?«, fragte er und blickte auf. Lady Joffrey stand der Mund offen, und er lächelte. »Nein, natürlich nicht. Ich bitte um Verzeihung.«
Er blätterte das Buch bedächtig durch und hielt hier und dort inne, um ein wenig zu lesen. Die Verse waren gar nicht so übel, dachte er - manchmal sogar gut. Das Material jedoch…
»Ja«, sagte er dann. Er schloss das Buch und räusperte sich. »Ich verstehe, warum Ihr zögert, ihm dies persönlich zu überreichen - schließlich ist er Franzose; auch wenn es, glaube ich, heißt, dass er seiner gegenwärtigen Mätresse absolut treu ist. Ihr hattet Euch wohl den Inhalt nicht angesehen, bevor Ihr hierhergekommen seid?«
Sie schüttelte den Kopf, sodass ihr die Fasenenfedern, die sie in ihrem gepuderten Haar trug, über die Schulter fegten.
»Nein. Er - mein Verwandter - hat es mir Anfang der Woche gebracht, aber ich hatte noch keine Gelegenheit, einen Blick darauf zu werfen. Ich habe es unterwegs in der Kutsche gelesen - und dann wusste ich natürlich nicht mehr, was ich tun sollte, bis ich Euch glücklicherweise erspäht habe.« Sie sah sich nach der Gruppe am Fenster um, dann richtete sie den Blick wieder auf Grey. »Ich habe ihm versprochen, es zu übergeben. Würdet Ihr es tun? Bitte?«
»Ich weiß wirklich nicht, warum Euch Euer Mann nicht regelmäßig züchtigt«, bemerkte er kopfschüttelnd. »Oder Euch nicht zumindest zu Hause einsperrt. Hat er die geringste Ahnung …?«
»Sir Richard ist ein geschickter Diplomat«, erwiderte sie selbstzufrieden. »Es gehört zu seinen Spezialitäten, keine Ahnung von Dingen zu haben, die man besser nicht erfährt.«
»Was Ihr nicht sagt«, erwiderte Grey trocken. »Apropos - kenne ich denn Euren Verwandten?«
»Oh, das kann ich nicht sagen, ich habe doch so viele«, erwiderte sie mit ausdrucksloser Miene. »Aber wo wir gerade von Verwandten sprechen - ich höre, dass Ihr bald einen neuen Bruder bekommen werdet? Man sagt, er sieht erstaunlich gut aus.«
Zu hören, wie Percival Wainwright als sein Bruder bezeichnet wurde, löste ein etwas merkwürdiges Gefühl in ihm aus, als erwäge er tatsächlich, Inzest zu begehen. Doch er ignorierte es und wies kopfnickend zum Tisch.
»Das könnt Ihr selbst entscheiden, dort steht er.« Wainwright hatte sich von dem Gedränge rings um den Philosophen entfernt, und wie Grey erfreut feststellte, war er jetzt seinerseits von einer kleinen Menschengruppe umringt, die aus Männern und Frauen bestand und in ihm einen amüsanten Gesprächspartner zu finden schien - vor allem Lady Beverley, die ihm an den Lippen hing - und am Arm. Wainwright erzählte gerade irgendeine Geschichte. Sein Gesicht leuchtete, und Grey spürte die Wärme seiner Gegenwart selbst am anderen Ende des Zimmers. Als spürte er ihre Blicke, drehte Percy plötzlich das Gesicht in ihre Richtung und warf Grey ein Lächeln zu, aus dem eine solche Freude an seiner Umgebung sprach, dass Grey es erwiderte, seinerseits froh zu sehen, dass er so gut zurechtkam.
Lucinda Joffrey stieß einen beifälligen Summlaut aus.
»Oh, ja«, sagte sie. »Und Stil hat er auch. Habt Ihr seine Kleidung ausgesucht?«, erkundigte sie sich.
Nein, aber ich würde ihn sehr gern daraus befreien . Der Gedanke tauchte mit solch verblüffender Lebhaftigkeit in seinem Kopf auf, dass er im ersten Moment Angst hatte, ihn laut ausgesprochen zu haben. Doch das hatte er nicht, und er räusperte sich, um ganz sicherzugehen.
»Nein, er hat selbst einen exzellenten Geschmack.«
»Und genug Geld, um ihn sich zu leisten?«
Er fühlte sich nicht beleidigt. Die Mittel eines Mannes zählten normalerweise mehr als sein Gesicht, und jeder würde sich dasselbe über einen Neuankömmling fragen - auch wenn nicht
jeder die Frage so unverblümt
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