Die Sünde der Brüder
gegenübertreten, um es ihm zu erklären, nicht jetzt, da alle Augen auf diese Ecke des Zimmers gerichtet waren - Diderot deklamierte eines der Gedichte, anscheinend zur Erbauung eines anderen Herrn, dessen Kopf Grey kurz über die Trennwand lugen sah. Offenes Gelächter breitete sich im Zimmer aus, und Greys Blick fiel auf Lucinda Joffrey, die sich den geöffneten Fächer vor den Mund hielt. Sie hatte die Augen weit aufgerissen - ob vor Belustigung oder Entsetzen, wollte er lieber nicht herausfinden.
»Gehen wir.« Er packte Percy am Arm, und mit einer knappen Verbeugung vor Lady Jonas ergriffen sie hastig die Flucht.
Draußen hatte es jetzt heftig zu schneien begonnen. Am Rand des Hyde Parks blieben sie atemlos stehen, um sich im Schutz der Bäume in ihre Mäntel und Umhänge zu kämpfen.
»Ich hatte ja keine Ahnung, Lord John.« Percy Wainwrights
Wangen waren rot vor Kälte und vor Lachen. »Ich wusste ja, dass Ihr ein geistreicher Mensch seid, aber ein Dichter? Und das Thema …«
»Ihr könnt doch nicht ernsthaft glauben, dass ich das geschrieben habe! Und nennt mich doch um Himmels willen John«, fügte er hinzu.
Percy sah ihn an - der Schnee glitzerte in seinem dunklen Haar, denn er hatte in der Wärme und im Gedränge des Salons den Großteil seines Puders verloren - und schenkte ihm ein hinreißendes Lächeln.
»Dann also John«, sagte er leise.
Es wurde nun rasch Abend. Aus den Fenstern der Häuser auf der anderen Straßenseite schimmerte Kerzenlicht, und es lag etwas Rätselhaftes, Aufregendes in der Luft, während die weißen Flocken vollkommen lautlos zu Boden schwebten und die gepflasterten Straßen, die kahlen Bäume und den alltäglichen Schmutz Londons im Handumdrehen verschwinden ließen. Trotz der Kälte fühlte er, wie ihn Wärme durchströmte; war es ihm anzusehen?, fragte sich Grey.
»Es ist noch früh«, sagte er und senkte den Blick, um sich ein paar Schneeflocken vom Hut zu streichen. »Was haltet Ihr von einem Abendessen im Beefsteak, vielleicht eine Partie Karten? Oder, falls Ihr Interesse habt, gibt es ein neues Theaterstück …«
Er blickte schüchtern auf und sah Percys enttäuschtes Gesicht.
»Nichts, was ich lieber täte. Aber der General hat uns zum Abendessen bei Oberst Benham eingeladen; ich kann nicht absagen, da es dabei um mich geht.«
»Nein, natürlich«, beeilte sich Grey zu sagen. Auch er war unverhältnismäßig enttäuscht. »Ein anderes Mal -«
»Morgen?« Percy sah ihm direkt in die Augen. »Vielleicht … in meiner Wohnung? Ich lebe leider in sehr einfachen Verhältnissen. Aber es ist …« Grey sah, wie sich Percys Kehle bewegte, weil er schluckte. »Es ist… ruhig. Niemand würde uns dort stören.«
Die allgemeine Wärme, die Grey verspürt hatte, sammelte sich ganz plötzlich tief in seinem Unterleib.
»Das wäre… oh, verdammt!«
»Ist Euch eine andere Verabredung eingefallen?« Percy lächelte schief und zog eine Augenbraue hoch. »Das überrascht mich nicht; ich kann mir vorstellen, dass Ihr viele gesellschaftliche Verpflichtungen habt.«
»Das wohl kaum«, versicherte ihm Grey. »Nein, es ist nur, dass ich morgen früh in den Lake District reisen muss. Zur Beerdigung einer - einer Freundin.« Noch als er das sagte, überlegte er, wie er seine Abreise aufschieben könnte - ein Tag würde doch gewiss nichts ausmachen? Vielleicht konnte er die verlorene Zeit unterwegs wieder aufholen.
Er wäre furchtbar gern geblieben; er bildete sich ein, Percys Körperhitze trotz des Abstands und der verschneiten Luft zwischen ihnen spüren zu können. Und doch… gewiss war es besser, wenn sie mehr Zeit hatten. Dies war nicht irgendein Fremder - oder vielmehr, zwar war er das. Doch er war ein Fremder, der im Begriff war, ein Familienmitglied zu werden, und von dem er hoffte, dass er ein Freund werden würde; kein attraktiver, anonymer Körper, den er nie wieder sehen würde. Er wünschte sich sehr, es zu tun - aber noch mehr wünschte er sich, es richtig zu tun.
»Ich muss gehen«, wiederholte er widerstrebend. »Ich bedaure es außerordentlich. Aber ich bin natürlich rechtzeitig zur Hochzeit wieder da.«
Percy sah ihn einen Moment lang forschend an, dann lächelte er ihn schwach an und hob die Hand. Seine nackten Finger berührten Greys Wange, kalt und flüchtig.
»Dann geht mit Gott«, sagte er. »John.«
Es hätte schlimmer sein können, dachte er. Die Tatsache, dass Percy Wainwright unabkömmlich war, bedeutete, dass er selbst den Abend frei
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